Loslassen (von Frieda Notter)

Ich habe jemandem unvorsichtigerweise gesagt, ich könne übers Loslassen schreiben, woraufhin mich jemand beim Wort genommen hat und ich jetzt übers Loslassen schreiben muss. Dabei kann ich gar nicht übers Loslassen schreiben. Weil ich nicht loslassen kann. Und ich glaube das liegt daran, dass ich gar nicht festhalten kann. So wie eigentlich überhaupt niemand festhalten kann, zumindest nicht jemand anderen festhalten kann. Aber der Reihe nach.

Ursprünglich wollte ich so etwas schreiben wie: wir müssen gerade die Menschen, die wir lieben (manchmal? immer?) loslassen. Denn wir wollen ja, weil wir sie lieben, dass sie frei sind. Manchmal ist Loslassen aber sehr schwer. Weil wir die Menschen eben lieben und immer in unserer Nähe haben wollen. Dann müssen wir uns zwingen sie loszulassen, aus Liebe. Weil die höchste Form der Liebe eben ist, dass wir wollen, dass es der anderen Person gut geht. Und manchmal (immer?) geht es einer anderen Person eben erst gut, wenn wir sie loslassen. „Ich lass Dich so schnell nicht mehr los“ wird als Liebeserklärung verstanden. Kann aber auch eine Drohung sein.
Ganz besonders wichtig bei Kindern. Die lieben wir. Und die möchten wir immer bei uns haben. Das wäre aber das Schlimmste was wir ihnen antun könnten, dass sie glaubten, sie müssten immer bei uns sein. Also große Lebensaufgabe: aus Liebe loslassen lernen.

So in etwa wollte ich das schreiben. Vielleicht hätte ich mich sogar zu irgendeinem Kalenderspruch hinreißen lassen wie: „Was man liebt soll man loslassen – denn wenn es dann wiederkommt gehört es einem ganz.“
Klingt super, oder?
Ist aber ehrlich gesagt scheiße.
„..gehört es (er? sie?) einem ganz“. Ernsthaft? Niemand gehört einem ganz. Nicht mal ein wenig. Menschen gehören einander nicht. Sie gehören maximal sich selbst. Maximal. Oder sind einfach.

Die Vorstellung, dass Menschen anderen Menschen gehören können und vor allem dürfen, ist eine kolonialistisch-rassistische (Sklaverei) oder auch eine biblisch-partriarchale: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist .“ (9. und 10. Gebot). Das Weib als Besitz, genauso wie das Vieh und das Haus. Erst gehört es den Eltern, dann dem Ehemann (das wäre jetzt wieder die Stelle, an der ich mich aufregen könnte über die unsägliche „romantische“ Hochzeitstradition, dass der Vater die Braut in die Kirche bringt und dort an den Bräutigam übergibt, tue ich aber nicht, keine Sorge ;-))

Das haben wir doch hoffentlich hinter uns gelassen.

Aber wenn wir das wirklich hinter uns gelassen haben, das mit dem Gehören, mit dem Behalten, mit dem Festhalten, wieso sollten wir dann überhaupt loslassen? Dann hätte ja auch das, was wir „loslassen“ nennen (die Person nicht mehr bedrängen, nicht mehr manipulieren, nicht mehr bevormunden…) noch den Geschmack des Gehörens, Behaltens, Festhaltens, die Überheblichkeit des „Ich weiß besser was gut für Dich ist und deswegen lasse ich Dich jetzt los“.

Gut, wir können innerlich loslassen. Wir können den Gedanken loslassen, dass unser Glück von der Anwesenheit dieser Person abhängt, dass wir sie unbedingt dazu bringen müssen, bei uns zu sein. Wir können (und meiner Meinung nach auch: sollten) den Gedanken loslassen, dass wir Menschen besitzen können, dass „Du bist mein“ in irgendeiner Weise eine romantische (oder wenn schon romantisch dann wenigstens nicht handlungsleitende ) Idee sein könnte. Aber wir können – wenn wir einem Menschen mir Respekt begegnen – ihn nicht loslassen, weil wir hoffentlich nie geglaubt haben, ihn festhalten zu können oder zu dürfen (was ja genau genommen nur durch Manipulation seiner /ihrer Gefühle möglich ist).
Wenn wir Menschen diesen Respekt für ihre Eigenständigkeit entgegenbringen, dann können wir sie durchaus um etwas bitten: „Ich würde mich freuen, wenn Du Zeit mit mir verbringen wolltest, ich hab Dich gern.“ und wir können ihnen auch sagen: „Ich wünsche mir so, dass Du glücklich wirst, denn ich liebe Dich.“. Wir können sie fragen, was sie sich von uns wünschen: „Wäre es Dir lieber, ich rufte Dich erst einmal nicht mehr an?“. Wir werden aber wohl weder sagen „Ich lass Dich jetzt los, denn es ist besser so für Dich“ noch „Ich bin für Dich da, denn Du brauchst mich ja“. Weil Menschen keine Dinge sind, die unserer Pflege und Sorge bedürfen, können wir davon ausgehen (wenn sie nicht gerade sehr jung, sehr krank oder sehr verwirrt sind), dass sie selbst wissen, was gut für sie ist. Sehr schön finde ich deswegen eine Abschiedsformel, die ich in letzter Zeit öfter gehört habe, und die mich jedes mal hat lächeln lassen weil sie impliziert, dass ich es kann und die Person möchte, dass ich es tue: Pass gut auf Dich auf!

In diesem Sinne : Passt gut auf Euch auf!

Was denkt Ihr? Macht das Konzept des Loslassens für Euch in irgendeiner Weise Sinn? Kennt Ihr den Gedanken, einen Menschen festhalten zu wollen? Wie geht Ihr damit um? Ich weiß, dass das wahrscheinlich eine kontroversieller Text ist. Deswegen: Keine Sorge, ich freue mich über Widerspruch und Diskussion! Das zeigt, dass mein Text gehaltvoll ist (so wie eine Theorie nach Popper nur dann als wissenschaftlich gelten kann, wenn sie grundsätzlich widerlegbar ist) und dass Ihr ihn ernst nehmt!

2 thoughts on “Loslassen (von Frieda Notter)

  1. Zu diesem Thema habe ich eine sehr schöne und zugleich traurige Geschichte in Khaled Hosseinis Buch Traumsammler gelesen:

    Ihr wollt eine Geschichte hören? Gut, ich erzähle euch eine. Aber nur eine. Bettelt nicht um mehr, ihr zwei! Es ist schon spät, Pari, und wir haben morgen einen langen Weg vor uns. Du brauchst deinen Schlaf. Das gilt auch für dich, Abdullah. Während ich mit deiner Schwester fort bin, verlasse ich mich auf dich, mein Junge. Deine Mutter braucht deine Hilfe. Also dann – eine Geschichte. Aufgepasst, ihr zwei, hört gut zu und redet nicht dazwischen. Es war einmal ein Bauer namens Baba Ayub, der lebte vor langer, langer Zeit, als Dämonen, Dschinns und Riesen durch unser Land zogen. Baba Ayub wohnte im Dörfchen Maidan Sabz. Er musste eine vielköpfige Familie ernähren und brachte die Tage im Schweiße seines Angesichts zu. Er arbeitete von früh bis spät, pflügte und bestellte seinen Acker und hegte seine kümmerlichen Pistazienbäume. Ob morgens, mittags oder abends, immer sah man ihn auf dem Feld, tief über den Boden gebeugt und so krumm wie die Sichel, die er täglich schwang. Seine Hände waren schwielig und oft blutig, und wenn er sich abends zur Ruhe legte, übermannte ihn der Schlaf, sobald er die Wange auf das Kissen bettete. Damit stand er nicht allein. Das Leben in Maidan Sabz war für alle Bewohner eine schwere Prüfung. Weiter nördlich gab es Dörfer, die ein besseres Los gezogen hatten, denn sie lagen
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    in Tälern mit Obstbäumen und Blumen, mit linder Luft und Bächen mit kaltem, klarem Wasser. Doch Maidan Sabz war ein öder Ort, und sein Name – »Grüne Flur« – sprach der Wirklichkeit Hohn. Das Dorf lag in einer flachen und staubigen, von einem zerklüfteten Gebirgszug umgebenen Ebene. Der heiße Wind blies einem Staub in die Augen. Das Wasserholen war ein täglicher Kampf, weil die Dorfbrunnen, egal wie tief, oft zu versiegen drohten. Es gab zwar einen Fluss, aber er war einen halben Tagesmarsch entfernt und das ganze Jahr verschlammt, und nun, nach zehn dürren Jahren, führte er sowieso kaum noch Wasser. Man könnte sagen, dass es den Menschen in Maidan Sabz nur halb so gut ging wie allen anderen, obwohl sie doppelt so viel arbeiteten. Baba Ayub hielt sich trotzdem für gesegnet, denn er ging ganz in seiner Familie auf. Er liebte seine Frau und erhob ihr gegenüber nie die Stimme, geschweige denn die Hand. Er achtete ihren Rat und war gern mit ihr zusammen. Kinder hatte er so viele wie Finger an einer Hand, drei Söhne und zwei Töchter, und er liebte sie innig. Seine Töchter waren pflichtbewusst und freundlich, charakterfest und von untadeligem Ruf. Seinen Söhnen hatte er längst beigebracht, Ehrlichkeit, Mut, Freundschaft und harte, klaglose Arbeit als hohe Werte zu begreifen. Als gute Söhne gehorchten sie und halfen ihm bei der Feldarbeit. Ja, Baba Ayub liebte alle seine Kinder, aber sein jüngstes, den dreijährigen Qais, liebte er insgeheim am meisten. Qais war klein und hatte dunkelblaue Augen. Er bezauberte alle mit seinem spitzbübischen Lachen. Außerdem war er einer jener Jungen, die vor Kraft nur so strotzen und andere durch ihre Energie auslaugen. Er hatte so große Freude am Laufenlernen, dass er nicht nur den lieben, langen Tag auf den Beinen war, sondern beunruhigenderweise auch wenn er schlief. Er wandelte im Schlaf aus dem Lehmziegelhaus der Familie in die
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    mondhelle Nacht. Seine Eltern waren natürlich besorgt. Was, wenn er in einen Brunnen fallen, sich verirren oder, schlimmer noch, von einem der Geschöpfe angegriffen werden würde, die auf der finsteren Ebene lauerten? Seine Eltern versuchten sich auf allerlei Art zu behelfen, aber alles schlug fehl. Schließlich fand Baba Ayub eine Lösung, die, wie die meisten guten Ideen, denkbar schlicht war: Er nahm einer Ziege das Glöckchen ab und hängte es Qais um den Hals. So bekam es jemand im Haus mit, wenn Qais wieder einmal mitten in der Nacht aufstand. Er hörte nach einer Weile auf schlafzuwandeln, aber da er das Glöckchen liebgewonnen hatte, mochte er davon nicht lassen und trug es weiter um den Hals, obwohl es seinen ursprünglichen Zweck längst erfüllt hatte. Wenn Baba Ayub nach einem langen Arbeitstag heimkehrte, kam Qais aus dem Haus gerannt und sprang seinen Vater an, und das Glöckchen bimmelte bei jedem seiner kleinen Schritte. Baba Ayub nahm ihn dann auf den Arm und trug ihn ins Haus. Dort sah Qais seinem Vater fasziniert beim Waschen zu und setzte sich beim Essen neben ihn. Danach nippte Baba Ayub am Tee, ließ den Blick über seine Familie schweifen und malte sich den Tag aus, an dem alle seine Kinder verheiratet wären und eigene Kinder hätten, den Tag, an dem er das Oberhaupt einer noch größeren Familie wäre. Doch leider, Abdullah und Pari, sollte die glückliche Zeit im Leben Baba Ayubs bald ein Ende nehmen. Eines Tages kam ein Dämon nach Maidan Sabz. Er strebte vom Gebirge auf das Dorf zu, und die Erde erbebte unter seinen Schritten. Die Dorfbewohner ließen Spaten, Hacken und Äxte fallen und ergriffen die Flucht. Sie schlossen sich in ihren Häusern ein und kauerten sich aneinander. Schließlich verstummten die ohrenbetäubend lauten Schritte des Dämons, und sein Schatten verdunkelte Maidan Sabz. Seinem Kopf, so erzählte man sich, entsprangen geschwungene Hörner, und
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    seine Schultern und der mächtige Schwanz waren von einem groben, schwarzen Fell bedeckt. Seine Augen, so hieß es, glühten rot. Genaueres wusste niemand, jedenfalls kein Lebender, denn der Dämon fraß auf der Stelle jeden, der auch nur den Blick zu heben wagte. Die Dorfbewohner wussten dies und hielten den Blick die ganze Zeit gesenkt. Jeder ahnte, warum der Dämon im Dorf erschienen war. Alle hatten Geschichten über seine Heimsuchungen anderer Dörfer gehört und wunderten sich, warum er sie so lange verschont hatte. Vielleicht, dachten sie, lag es daran, dass ihre Kinder aufgrund des ärmlichen und mühseligen Alltags so mager waren. Nun hatte sie das Glück jedoch im Stich gelassen. Ganz Maidan Sabz erzitterte und hielt den Atem an. Alle Familien beteten darum, dass der Dämon ihr Haus verschonen möge, denn sie wussten, dass sie ihm ein Kind geben mussten, wenn er an das Dach klopfte. Der Dämon würde das Kind in einen Sack stecken und sich diesen über die Schulter werfen und auf jenem Weg verschwinden, auf dem er gekommen war. Niemand würde das arme Kind je wiedersehen. Und wenn sich eine Familie weigerte, nahm der Dämon einfach alle Kinder mit. Und wohin brachte der Dämon die Kinder? In seine Burg, die auf dem Gipfel eines hohen Berges stand. Diese Burg war sehr weit von Maidan Sabz entfernt. Man musste Täler, mehrere Wüsten und zwei Gebirgszüge überwinden, bevor man sie erreichte, und wer wollte diese Strapazen auf sich nehmen, nur um in den sicheren Tod zu gehen? Angeblich gab es in dieser Burg unzählige Verließe, an deren Wänden Hackebeile hingen. Fleischhaken baumelten von der Decke. Man munkelte von riesigen Bratspießen und Feuerstellen. Es hieß, der Dämon würde seine Abneigung gegen das Fleisch Erwachsener vergessen, wenn ihm ein Eindringling über den Weg lief.
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    Ihr ahnt sicher, in welchem Haus das gefürchtete Klopfen des Dämons ertönte. Baba Ayub entrang sich bei dem Geräusch ein gequälter Schrei, und seine Frau wurde ohnmächtig. Die Kinder weinten vor Entsetzen und aus Sorge, weil sie wussten, dass sie jetzt einen Bruder oder eine Schwester verlieren würden. Die Familie hatte eine Frist bis zum nächsten Morgen – dann musste das Opfer dargebracht werden. Wie soll ich die Qualen schildern, die Baba Ayub und seine Frau während dieser Nacht durchlitten? Eltern dürften nicht vor so eine Wahl gestellt werden. Baba Ayub und seine Frau beratschlagten außer Hörweite ihrer Kinder, was zu tun war. Sie redeten und weinten, redeten und weinten. Sie beratschlagten die ganze Nacht, doch als der Morgen graute, hatten sie noch immer keine Entscheidung getroffen – und vielleicht hatte der Dämon genau dies im Sinn, weil er so alle fünf Kinder mitnehmen konnte. Schließlich las Baba Ayub draußen vor dem Haus fünf gleich große und gleich geformte Steine auf. Auf jeden schrieb er den Namen eines Kindes und warf sie dann in einen Jutesack. Seine Frau zuckte zurück wie vor einer Giftschlange, als er ihr den Sack hinhielt. »Unmöglich«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich kann diese Wahl nicht treffen. Das wäre zu schrecklich.« »Ich vermag es auch nicht«, sagte Baba Ayub, aber da sah er durch das Fenster, dass die Sonne gleich über den Bergen aufgehen würde. Die Zeit lief ihm davon. Bedrückt musterte er seine fünf Kinder. Ein Finger musste abgehackt werden, um die Hand zu retten. Er schloss die Augen und holte einen Stein aus dem Sack. Ihr ahnt sicher, welcher Name auf dem Stein stand. Als Baba Ayub ihn sah, warf er den Kopf in den Nacken und schluchzte. Er nahm seinen jüngsten Sohn mit gebrochenem Herzen in die Arme, und Qais, der seinem Vater blind vertraute, schlang seine Ärmchen fröhlich um Baba Ayubs Hals. Er merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als die Tür zu
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    fiel, sobald er draußen stand, und hinter der Tür stand Baba Ayub, aus dessen zugekniffenen Augen Tränen flossen, während sein geliebter Qais mit den Fäustchen gegen das Holz trommelte und seinen Baba anflehte zu öffnen. Baba Ayub murmelte: »Vergib mir, vergib mir«, und im nächsten Moment ließen die Schritte des Dämons die Erde erzittern, und sein Sohn schrie, und die Erde bebte weiter, während der Dämon aus Maidan Sabz verschwand. Schließlich war er fort, und die Erde beruhigte sich, und die Stille wurde nur noch von Baba Ayub unterbrochen, der Qais weinend um Vergebung bat. Abdullah. Deine Schwester ist eingeschlafen. Leg die Decke über ihre Füße. Ja, so ist es gut. Soll ich aufhören? Noch nicht? Bist du sicher, mein Junge? Gut, dann weiter. Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Nun wurde vierzig Tage getrauert. Die Nachbarn kochten täglich eine Mahlzeit für die Familie und wachten mit ihr. Die Menschen brachten alle möglichen Gaben, Tee, Süßigkeiten, Brot, Mandeln, und sie bekundeten ihre Trauer und ihr Mitgefühl. Baba Ayub brachte kaum ein Wort des Dankes über die Lippen. Er saß in einer Ecke, und aus seinen Augen strömten die Tränen, als wollte er der jahrelangen Dürre ein Ende setzen. Die Seelenqualen und Schmerzen, die er litt, würde man nicht einmal seinem ärgsten Feind wünschen. Jahre vergingen. Die Dürre hielt an, und die Armut in Maidan Sabz wurde immer schlimmer. Mehrere Säuglinge verdursteten in der Wiege. Der Wasserstand der Brunnen sank weiter, und der Fluss trocknete aus. Im Gegensatz dazu glich Baba Ayubs Schmerz einem Strom, der täglich weiter anschwoll. Er war seiner Familie keine Hilfe mehr. Er arbeitete nicht, er betete nicht, er aß kaum einen Bissen. Seine Frau und seine Kinder redeten vergeblich auf ihn ein. Seine verbliebenen Söhne mussten die Arbeit übernehmen, denn Baba Ayub saß den ganzen Tag am Rand seines Ackers, eine einsame, elende Ge
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    stalt, und blickte unverwandt auf das ferne Gebirge. Er ging den Dorfbewohnern aus dem Weg, weil er glaubte, sie würden hinter seinem Rücken über ihn tuscheln. Er bildete sich ein, dass sie ihn für einen Feigling hielten, weil er seinen Sohn freiwillig hergegeben hatte, und für einen schlechten Vater, weil ein guter Vater gegen den Dämon gekämpft und bei der Verteidigung seiner Familie sein Leben gelassen hätte. Das erzählte er eines Abends seiner Frau. »Niemand sagt so etwas«, antwortete sie. »Niemand hält dich für einen Feigling.« »Aber ich kann sie hören«, sagte er. »Was du da hörst, ist deine eigene Stimme, mein guter Mann.« Sie verschwieg ihm jedoch, dass die Dorfbewohner tatsächlich hinter seinem Rücken tuschelten– darüber, dass er womöglich den Verstand verloren hatte. Schließlich kam der Tag, der dies zu bestätigen schien. Baba Ayub erhob sich im Morgengrauen. Er steckte ein paar Kanten Brot in einen Jutesack, zog die Schuhe an, band sich seine Sichel um und brach auf. Er wanderte viele, viele Tage. Er wanderte, bis die Sonne blassrot in der Ferne verglühte. Wenn draußen der Wind heulte, übernachtete er in Höhlen. Manchmal schlief er an Flussufern, unter Bäumen oder im Schutz von Felsbrocken. Nachdem das Brot alle war, aß er, was er finden konnte, ob Beeren, Pilze oder Fische, die er mit bloßen Händen in den Bächen fing. An manchen Tagen hungerte er, doch er gab nicht auf. Wenn er unterwegs nach seinem Ziel gefragt wurde, antwortete er ganz offen. Manche lachten ihn aus, andere ließen ihn stehen, weil sie ihn für verrückt hielten, und wieder andere, die auch ein Kind an den Dämon verloren hatten, beteten für ihn. Baba Ayub wanderte weiter, den Kopf gesenkt. Als seine Schuhe auseinanderfielen, befestigte er sie mit Bändern an den Füßen, und als die Bänder rissen, ging er barfuß
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    weiter. Auf diese Weise durchquerte er Wüsten und Täler und überwand Gebirge. Endlich erreichte er den Berg mit der Dämonenburg. Er war so besessen von seinem Vorhaben, dass er sich keine Rast gönnte, sondern sofort mit dem Aufstieg begann. Seine Kleider lagen in Fetzen, seine Füße waren blutig und seine Haare dreckverkrustet, aber sein Mut war ungebrochen. Spitze Steine rissen seine Füße auf. Falken hackten ihm ins Gesicht, wenn er an ihrem Horst vorbeikletterte. Heftige Windböen fegten ihn fast von der Bergflanke. Doch er setzte seinen Aufstieg fort, kletterte von einem Felsen zum nächsten, bis er vor den gewaltigen Toren der Dämonenburg stand. Wer wagt es?, dröhnte der Dämon, nachdem Baba Ayub einen Stein gegen das Tor geworfen hatte. Baba Ayub nannte seinen Namen. »Ich komme aus dem Dorf Maidan Sabz«, sagte er. Suchst du den Tod? Den wirst du finden, wenn du den Frieden meines Hauses störst! Was ist dein Begehr? »Ich bin gekommen, um dich zu erschlagen.« Hinter den Toren trat Stille ein. Dann schwangen sie auf, und da stand der Dämon, er überragte Baba Ayub in all seiner albtraumhaften Pracht. Ach, ja?, sagte er, und seine Stimme klang wie dumpfes Donnergrollen. »Ja«, sagte Baba Ayub. »So oder so – einer von uns beiden wird heute sterben.« Für einen Moment sah es so aus, als würde der Dämon Baba Ayub von den Beinen schmettern und mit einem einzigen Biss seiner messerscharfen Zähne töten. Aber das Ungeheuer verengte die Augen und zögerte. Vielleicht wegen des Irrsinns, der aus den Worten des Mannes sprach. Vielleicht wegen dessen zerfetzten Kleidern, dem blutigen Gesicht, dem Dreck, der ihn von Kopf bis Fuß bedeckte, den Schwären auf
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    der Haut. Oder zögerte der Dämon, weil er in den Augen des alten Mannes keine Spur von Angst erkennen konnte? Woher kommst du? »Aus Maidan Sabz«, wiederholte Baba Ayub. Wenn ich dich so ansehe, muss es weit weg liegen, dieses Maidan Sabz. »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu schwatzen. Sondern um dich …« Der Dämon hob eine Klauenhand. Ja. Ja. Du bist gekommen, um mich zu erschlagen. Ich weiß. Aber bevor du mich tötest, werde ich wohl noch ein paar Worte sagen dürfen. »Meinetwegen«, sagte Baba Ayub. »Aber nur ein paar.« Ich danke dir. Der Dämon grinste. Darf ich fragen, warum ich den Tod verdiene? Welches Unrecht habe ich dir angetan? »Du hast meinen jüngsten Sohn geraubt«, antwortete Baba Ayub. »Er war mir das Liebste auf der Welt.« Der Dämon fasste sich brummend ans Kinn. Ich habe viele Kinder von vielen Vätern geraubt, sagte er. Baba Ayub zog zornig die Sichel. »Dann werde ich auch in ihrem Namen Rache nehmen.« Dein Mut nötigt mir Respekt ab, das muss ich zugeben. »Du verstehst nichts von Mut«, sagte Baba Ayub. »Mut zeigt man nur, wenn etwas auf dem Spiel steht. Aber ich habe nichts mehr zu verlieren.« Du könntest dein Leben verlieren, sagte der Dämon. »Das hast du mir längst genommen.« Der Dämon brummte wieder und betrachtete Baba Ayub eingehend. Nach einer Weile sagte er: Also gut. Du sollst deinen Zweikampf bekommen. Aber zuvor möchte ich dich bitten, mir zu folgen. »Nur, wenn es nicht zu lange dauert«, sagte Baba Ayub. »Ich verliere allmählich die Geduld.« Doch der Dämon schritt schon auf einen Flur von gewaltigen Ausmaßen zu, und Baba
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    Ayub blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie gingen durch ein Labyrinth von Fluren mit himmelhohen Decken, gestützt von riesigen Säulen. Sie passierten zahlreiche Treppen und Räume, so groß, dass ganz Maidan Sabz hineingepasst hätte. Sie gingen immer weiter, bis Baba Ayub von dem Dämon in eine weite Halle geführt wurde, deren Rückwand von einem Vorhang verdeckt war. Komm näher, sagte der Dämon. Baba Ayub trat neben ihn. Der Dämon zog die Vorhänge auf. Dahinter befand sich ein verglastes Fenster, das den Blick auf einen großen Garten freigab. Baba Ayub sah, dass der Garten von Zypressenspalieren gesäumt war, vor deren Stämmen Blumen blühten. Er sah blau gekachelte Becken, Marmorterrassen und sattgrüne Rasenflächen. Er sah kunstvoll gestutzte Hecken und auch Springbrunnen, die im Schatten von Granatapfelbäumen plätscherten. Einen so wunderschönen Ort hätte er sich nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Doch was Baba Ayub wirklich überwältigte, waren die fröhlich herumtollenden Kinder. Sie spielten Fangen auf den Wegen und zwischen den Bäumen. Sie spielten Verstecken hinter den Hecken. Baba Ayub nahm ein Kind nach dem anderen in den Blick, und schließlich fand er, was er gesucht hatte. Da war er! Sein Sohn, Qais, lebendig und kerngesund. Er war größer geworden, und seine Haare waren länger als früher. Er trug ein schönes, weißes Hemd über einer feinen Hose. Er rannte lachend hinter zwei Spielkameraden her. »Qais«, flüsterte Baba Ayub, und sein Atem ließ das Glas beschlagen. Dann rief er den Namen seines Sohnes. Er kann dich weder sehen noch hören, sagte der Dämon. Baba Ayub sprang auf und nieder, schwenkte die Arme und hämmerte gegen das Glas, bis der Dämon die Vorhänge wieder zuzog.
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    »Ich verstehe nicht«, sagte Baba Ayub. »Ich dachte …« Dies ist deine Belohnung, sagte der Dämon. »Wie meinst du das?«, rief Baba Ayub aus. Ich habe dich auf die Probe gestellt. »Was für eine Probe?« Ich wollte deine Liebe auf die Probe stellen. Ich gebe zu, dass es eine schwere Prüfung war, und ich kann dir ansehen, wie viel sie dich gekostet hat. Aber du hast sie bestanden. Dies ist deine Belohnung. Und die deines Sohnes. »Und wenn ich mich damals nicht für ein Kind entschieden hätte?«, schrie Baba Ayub. »Wenn ich mich deiner Probe verweigert hätte?« Dann wäre es um alle deine Kinder geschehen gewesen, sagte der Dämon. Aber mit einem Schwächling als Vater wären sie sowieso verflucht gewesen. Mit einem Feigling, der lieber ihren Tod in Kauf genommen als sein Gewissen belastet hätte. Du sagst von dir selbst, dass du nicht mutig bist, aber ich sehe dir an, dass du es bist. Du hast Mut gebraucht, um dich zu entscheiden und die Last der Verantwortung auf dich zu nehmen. Das ehrt dich. Baba Ayub zückte die Sichel, doch sein Griff war schwach, und sie entglitt seiner Hand und fiel auf den Marmorfußboden. Seine Knie wankten, und er musste sich setzen. Dein Sohn erinnert sich nicht mehr an dich, fuhr der Dämon fort. Dies ist jetzt sein Leben, und du hast ja selbst gesehen, wie glücklich er ist. Er hat hier alles, was er braucht, gutes Essen, kostbare Kleidung, er erfährt Freundschaft und Zuneigung. Er wird in Kunst und Sprachen unterrichtet, und man lehrt ihn Weisheit und Wohltätigkeit. Es fehlt ihm an nichts. Und sollte er eines Tages, wenn er erwachsen ist, gehen wollen, so steht ihm das Tor offen. Er wird viele Leben durch seine Güte bereichern und jene, die von Kummer und Sorgen geplagt werden, glücklich machen.
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    »Ich will ihn sehen«, sagte Baba Ayub. »Ich will ihn mit nach Hause nehmen.« Tatsächlich? Baba Ayub sah zum Dämon auf. Dieser ging zu einem Schrank, der neben den Vorhängen stand, und holte eine Sanduhr aus einer Schublade. Weißt du, was eine Sanduhr ist, Abdullah? Ja? Gut. Der Dämon drehte sie um und stellte sie vor Baba Ayubs Füße. Ich gestatte dir, deinen Sohn mitzunehmen, sagte der Dämon. Wenn du es tust, kann er nie mehr hierher zurückkehren. Wenn du es nicht tust, kannst du nie mehr hierher zurückkehren. Ich warte, bis der Sand durchgelaufen ist. Dann wirst du mir deine Entscheidung mitteilen. Mit diesen Worten verschwand der Dämon aus der Halle und ließ Baba Ayub mit einer weiteren schweren Entscheidung allein. Ich bringe ihn zurück nach Hause, schoss es Baba Ayub durch den Kopf, denn dies wünschte er sich mit jeder Faser seines Körpers, dies war sein größtes Verlangen. Hatte er nicht tausend Mal davon geträumt? Seinen kleinen Qais wieder in den Armen zu halten, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben und seine zarten Händchen zu ergreifen? Und doch … Welches Leben hätte sein Sohn zu erwarten, wenn er mit ihm nach Maidan Sabz zurückkehren würde? Bestenfalls ein beschwerliches bäuerliches Leben wie das seine, nicht mehr. Und das auch nur, wenn Qais nicht durch die Dürre umkam wie so viele andere Kinder im Dorf. Könnte ich mir das je verzeihen?, fragte sich Baba Ayub. Könnte ich damit leben, ihn aus egoistischen Gründen eines Lebens beraubt zu haben, in dem ihm alle Wege zu Glück und Wohlstand offenstehen? Andererseits wusste Baba Ayub nun, dass sein kleiner Junge am Leben war und wo dieser sich aufhielt, und wie sollte er ihn da zurücklassen? Täte er das, würde er Qais nie mehr wieder
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    sehen, und das wäre furchtbar. Würde er das ertragen können? Baba Ayub weinte. Von Verzweiflung übermannt, schleuderte er die Sanduhr gegen die Wand, und sie ging in tausend Stücke, und der feine Sand rieselte auf den Fußboden. Der Dämon trat wieder ein und erblickte Baba Ayub, der mit hängenden Schultern vor der kaputten Sanduhr stand. »Du bist ein grausames Monster«, sagte Baba Ayub. Hättest du so lange gelebt wie ich, erwiderte der Dämon, dann wüsstest du, dass Grausamkeit und Güte zwei Seiten derselben Medaille sind. Hast du dich entschieden? Baba Ayub trocknete seine Tränen, hob die Sichel auf und band sie sich um den Bauch. Er schlich zur Tür, den Kopf tief gesenkt. Du bist ein guter Vater, sagte der Dämon, als Baba Ayub an ihm vorbeiging. »Für das, was du mir angetan hast, sollst du in den Feuern der Hölle schmoren«, murmelte Baba Ayub matt. Er war schon draußen im Flur, als der Dämon noch einmal nach ihm rief. Nimm dies mit, sagte der Dämon und reichte Baba Ayub ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit. Trinke auf dem Heimweg davon. Und nun lebe wohl. Baba Ayub nahm das Fläschchen und ging ohne ein weiteres Wort davon. Unterdessen saß seine Frau am Rand des Ackers der Familie und hielt Ausschau nach ihrem Mann, so wie Baba Ayub einst dort in der Hoffnung gesessen hatte, Qais zu erblicken. Mit jedem Tag, der verstrich, schwand ihre Hoffnung ein wenig mehr. Die Leute im Dorf sprachen schon in der Vergangenheitsform von Baba Ayub. Doch eines Tages, sie saß wieder auf der nackten Erde und sprach ein leises Gebet, sah sie eine ausgemergelte Gestalt, die vom Gebirge auf Maidan Sabz zukam. Sie hielt den abgemagerten, in Fetzen gehenden Mann
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    mit den hohlen Augen und eingesunkenen Schläfen zunächst für einen Derwisch, und sie erkannte ihren Mann erst aus der Nähe. Ihr Herz tat vor Freude einen Satz, und sie schrie erleichtert auf. Nachdem Baba Ayub sich gewaschen, gegessen und etwas getrunken hatte, ruhte er sich zu Hause aus, umringt von den Dorfbewohnern, die ihm viele Fragen stellten. Wo bist du gewesen, Baba Ayub? Was hast du gesehen? Was ist dir widerfahren? Baba Ayub wusste keine Antworten darauf, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er hatte alles vergessen: Seine lange Wanderung, die Besteigung des Berges mit der Burg, das Gespräch mit dem Dämon, den großen Palast und auch die weite Halle mit den Vorhängen. Er schien aus einem Traum erwacht zu sein, der ihm längst entglitten war. Er erinnerte sich weder an den verborgenen Garten und die Kinder noch an seinen Sohn Qais, der mit seinen Freunden unter den Bäumen gespielt hatte. Ja, die Erwähnung von Qais löste bei Baba Ayub nur ein verwirrtes Blinzeln aus. Begreifst du, dass es ein Akt der Gnade war, Abdullah? Die Gabe des Trankes, der die Erinnerung auslöschte? Damit belohnte der Dämon Baba Ayub, weil dieser auch die zweite Prüfung bestanden hatte. In jenem Frühling riss der Himmel über Maidan Sabz endlich auf. Und es war nicht der schwache Nieselregen der letzten Jahre, nein, es goss in Strömen. Der Regen fiel in Sturzbächen, zur großen Freude der Dorfbewohner. Der Regen trommelte den ganzen Tag auf die Dächer von Maidan Sabz und übertönte alle anderen Geräusche. Dicke, schwere Regentropfen fielen von den Blättern. Die Brunnen füllten sich, und der Pegel des Flusses stieg an. Die Hügel im Osten wurden grün. Wildblumen erblühten, und zum ersten Mal seit
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    vielen Jahren spielten die Kinder im Gras, und die Kühe fraßen sich daran satt. Alle jubelten. Als der Regen nachließ, hatten die Dorfbewohner alle Hände voll zu tun. Mehrere Lehmziegelmauern hatten sich aufgelöst, einige Dächer waren eingesackt und ganze Äcker zu Sümpfen geworden. Aber nach dem Elend der letzten zehn Jahre hatten die Menschen in Maidan Sabz keinen Grund zur Klage. Man stellte Mauern und Dächer wieder her und reinigte die Bewässerungskanäle. In jenem Herbst erntete Baba Ayub so viele Pistazien wie noch nie in seinem Leben, und während der folgenden zwei Jahre wurden seine Feldfrüchte noch größer und üppiger. Wenn Baba Ayub seine Waren in den großen Städten feilbot, saß er voller Stolz hinter seinen zu Pyramiden aufgetürmten Pistazien und strahlte wie der glücklichste Mensch auf Erden. Maidan Sabz wurde nie wieder von einer Dürre heimgesucht. Viel mehr gibt es nicht zu erzählen, Abdullah. Du könntest natürlich fragen, ob jemals ein junger, hübscher Mann auf seinem Weg zu großen Abenteuern durch das Dorf ritt. Legte er vielleicht eine Rast ein, um etwas zu trinken, setzte er sich, um mit den Dorfbewohnern das Brot zu teilen, womöglich sogar mit Baba Ayub? Das weiß ich nicht, mein Junge. Aber ich weiß, dass Baba Ayub ein sehr hohes Alter erreichte. Ich weiß, dass er, wie von ihm erhofft, die Hochzeiten all seiner Kinder miterlebte, und ich weiß, dass seine Kinder ihm viele Enkel schenkten, und jedes Enkelkind bereitete Baba Ayub große Freude. Und ich weiß, dass Baba Ayub in manchen Nächten ohne ersichtlichen Grund nicht schlafen konnte. Er war zu jenem Zeitpunkt bereits ein sehr alter Mann, aber mit Hilfe eines Stockes konnte er immer noch gehen. Also schlüpfte er in den schlaflosen Nächten aus dem Bett, ohne seine Frau zu wecken, nahm seinen Stock und verließ das Haus. Er lief durch
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    die Dunkelheit, ertastete den Weg und spürte die nächtliche Brise im Gesicht. Am Rand seines Ackers befand sich ein flacher Stein, auf dem er sich niederließ. Dort saß er dann eine Stunde oder länger und sah zu den Sternen und zu den am Mond vorbeiziehenden Wolken auf. Er dachte über sein langes Leben nach und war dankbar für all die Freude und Fülle, die ihm zuteilgeworden waren. Er wusste, dass es vermessen gewesen wäre, noch mehr zu verlangen oder noch größere Wünsche zu hegen. Er seufzte glücklich, lauschte dem Ruf der Nachtvögel und dem vom Gebirge kommenden Wind. Gelegentlich meinte er, noch etwas anderes zu hören – das zarte Bimmeln eines Glöckchens. Er begriff nicht, woher dieser Ton kam, denn es war tiefe Nacht, und alle Schafe und Ziegen ruhten. Manchmal redete er sich ein, dass es nur Einbildung war, und manchmal rief er ins Dunkel: »Ist dort jemand? Wer da? Zeig dich.« Doch er erhielt nie eine Antwort. Baba Ayub fand das unbegreiflich. Und er begriff genauso wenig, warum er bei diesem Bimmeln immer das Gefühl hatte, eine Welle ginge durch ihn hindurch, ein Gefühl, das ihn jedes Mal von neuem überraschte – wie das Ende eines traurigen Traums, wie ein unerwarteter Windhauch. Aber dann verging es wieder, wie alle Dinge vergehen. Es verging. Das ist alles, mein Junge. Das ist das Ende der Geschichte. Und nun ist es spät, und ich bin müde, und deine Schwester und ich müssen in aller Frühe aufstehen. Puste deine Kerze aus. Leg dich hin und schließ die Augen. Schlaf gut, mein Junge. Wir nehmen morgen früh Abschied voneinander.

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  2. Eckhart has the lovely idea of gelassenheit. Gelassen is German Word for calmness. Even when things (morals, people) go against us and the rhythm in our life takes us to awkward and lonely places, we can still maintain a stillness which is so natural in our soul…
    Thanks for this post, Marcel.
    Letting go is easier, when one „knows yourself“ and accepts that „everything flows“. 🙂
    I still cannot let it go.

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