Türchen 15 (von Andi)

Lange Tage

Dezember. Die Zeit im Jahr, in der alles ein wenig langsamer wird. Die sich unaufhaltsam weiterdrehende Welt erlaubt uns einen Gang herunterzuschalten. Die Abende werden ruhiger, die Tage kürzer und je näher das Ende des Monats rückt, desto mehr Feiern, desto mehr freie Tage, desto mehr freie Zeit. Weniger Arbeit, weniger Müssen.

Für mich ist das dieses Jahr anders. Diese Tage nun, wo alle schon über Geschenke und Weihnachtsfeiern reden, sich auf die freien Tage freuen und beginnen loszulassen, diese Tage fallen bei mir mit der intensivsten Zeit des Jahres zusammen. Kaum Wochenenden, wenige Feiern und wohl nur wenige Feiertage. Die Welt dreht sich jeden Tag schneller und weiter und immer muss was passieren. Für mich fühlt sich das aber nicht so schlimm an: zum einen findet auch diese Phase wieder ihr Ende, zum anderen kann es ja auch etwas Schönes an sich haben, Dinge fortschreiten und sich entwickeln zu sehen.

Im Idealfall zumindest. Gänzlich anders verhält es sich, wenn der Fortschritt in eine Richtung verläuft, die man eigentlich vermeiden will. Bei einer Krankheit zum Beispiel, wenn diese mit fortschreitendem Verlauf immer schlimmer wird. Dann kann man plötzlich nur mehr zusehen, selbst nicht eingreifen, nur das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen. Und so kommt es auch, dass meine Familie und ich momentan in der Gewissheit leben, dass, egal wie schnell sich die Erde heute dreht, sie schon bald für uns für ein paar Tage stehen bleiben wird. Gevatter Tod hat sein Kommen angekündigt. Monate oder Wochen, wir wissen es nicht, wir wissen nur: er kommt und wird mein Elternhaus besuchen.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch dreht sich die Welt jeden Tag ein Stück weiter. Ob langsam oder schnell, aber mit genug Zeit für Feiern, genug Zeit für Freunde und für Freude, für Leben. Und auch mit genug Zeit sich daran zu erinnern, jeden Tag mit etwas weniger Müssen und etwas mehr Wollen beginnen zu können. Das Schöne sehen. Dafür sollte immer genug Zeit sein.

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