Türchen 4 (von Andreas)

Lange Tage

Letztes Jahr zu dieser Zeit war es schon klar: mein Vater würde nicht mehr lange leben – Krebs im Endstadium. Entsprechend verhalten war auch die Erwartung an das Jahr 2024, das sich nun dem Ende zuneigt. Heute möchte ich diesen Ort hier nutzen, um auf diese Phase noch einmal zurückzublicken.

Als ich am 24. Dezember meine Eltern zum Abendessen besuchte, konnte mein Vater noch auf der Couch liegen und alleine mit dem Rollator zum Esstisch kommen. Rückblickend weiß ich gar nicht, wem ich den größeren Gefallen mit meinem Besuch getan hatte: ihm, meiner Mutter oder mir, aber für mich war klar, dass ich die freien Tage nutzen wollte, um so viel Zeit als möglich im Elternhaus zu verbringen.

Nachdem meine Mutter, fleißige Kirchgängerin, geplanter Weise dann zur Mette ging, war es meine Aufgabe, meinem Vater zu Helfen ins Bett zu kommen. Der Sohn bringt den Vater ins Bett! Das wirkt, zumindest beim ersten Mal, äusserst komisch und durchaus auch skurril. Statt Zähneputzen gibt es Katheter-Pflege. Statt zu schauen, dass das Kuscheltier eh im Bett in Reichweite ist, muss das Handy und Tablet in der Nähe sein. Da wird das Wasser am Nachtkastl glatt zur Generationen übergreifenden Konstante!

Es war natürlich für uns beide wesentlich ernster und dennoch, auch ein wenig versöhnlich: Hilfe zu geben und Hilfe in Anspruch zu nehmen, für durchaus auch unangenehme Arbeitsschritte, das war zumindest für uns beide eine neue Situation. Und ich glaube, wir haben das sehr gut gemacht.  

Eine Woche später, am 31. Dezember brauchte mein Vater bereits einen Rollstuhl. Ohne Hilfe konnte er nicht mehr von der Couch zum Esstisch kommen, ein Weg, den er ohnehin nicht mehr des Hungers wegen auf sich nahm. Für uns alle war klar: die Kräfte schwinden immer schneller. Gleich zu Neujahr bemühte sich meine Mutter daher um eine Pflegebett für daheim, welches dann Mitte der Woche bereit geliefert und aufgebaut wurde. Er würde es nur für sehr kurze Zeit in Anspruch nehmen.

Ende der Neujahrswoche, exakt 2 Wochen nach Weihnachten, war es dann soweit. Vorausgegangen waren schlechte Tage und Nächte, wo er kaum mehr ansprechbar und rundum pflegebedürftig war. Am Nachmittag veränderte sich dann auch die Atmung merkbar und auch die Haut veränderte ihre Farbe. Da wurde für uns die anwesend waren, also meiner Mutter, meiner Schwester und mir, immer mehr klar: das sind jetzt die letzten Stunden.

Hände halten, Mund befeuchten, Decke richten, gemeinsam am Bett reden – alles tun, damit ihm auch klar war, dass er nicht alleine ist. Dann, plötzlich, öffnete er die Augen. Er sah sich um als wollte er sicher gehen, dass eh alle noch da sind. Oder wollte er wissen, wer eigentlich alles da ist? Jedenfalls sah er jeden von uns noch einmal direkt an. Zuerst meine Mutter, dann Blick zu meine Schwester, schließlich zu mir auf der anderen Seite des Bettes. Eine letzte Verabschiedung. Kaum hatte er die Augen geschlossen wurde der Puls langsamer und schwächer. Wenige Minuten dauerte das nur. Dann schlug sein Herz den letzten Schlag.

Stille.

Meine Mutter verließ das Bett Richtung Terrasse. Kaum war sie draussen, lies sie los. Eine Jahrzehnte lange Ehe mit allen Hochs und Tiefs, ein Jahr lang leben mit Diagnose Krebs, wochenlang zusehen wie sich der Zustand verschlechtert, tagelang intensiv pflegen. Ein gemeinsames Leben mit so vielen schönen und weniger schönen Momenten. Alles zu Ende, alles aus, alles weg. Komm, lass es raus Mama!

Die Stunden danach vergingen sehr schnell. Nach den ersten Momenten des Realisierens und der Verarbeitung des gerade Geschehenen beginnt irgendwann, langsam aber stetig, die Informations-Kette in Gang gesetzt zu werden. Mein Bruder, der immer noch erst am Weg war, verständigen. Engste Verwandte, Partner, Freunde. Amtsärztin, Bestatter. Und jedes Mal kurze, aber intensive Telefonate.

All dieses Informieren und Organisieren lenkt natürlich auch ab. Immer wieder aber der Weg zum Krankenbett um doch noch einmal die Hand zu streicheln. Doch noch einmal sich selbst bewusst machen: er ist tot. Im Nachhinein bin ich auch dankbar, dass meine Kinder die Möglichkeit hatten und in Anspruch nahmen, ihn ein letztes Mal zu sehen. Meine Schwester hatte ihm in der Zwischenzeit ein Tuch umgewickelt, das den Mund geschlossen hielt. Das verlieh ihm ein babyhaftes Ansehen: das weiße Tuch mit Masche am Kopf, Mund und Augen fest zu als würde er den tiefsten Schlaf schlafen.

Richtig schwer wurde es dann wieder, als die Bestatter kamen. Zeug aus dem Weg räumen, Platz machen, der Sarg kommt! Kein grauer Tatort-Sarg, sondern ein weißer, schöner, innen mit Samt ausgestatteter, Sarg. Hineingehoben, ein Kreuz in die gefalteten Hände gesteckt. Letzte Blicke für alle. Dann zugemacht. Der Sarg wird rausgetragen und eingeladen in den Wagen. Meine Mutter immer einen Schritt dahinter. Dann die Türe zu. Schließlich fährt der Wagen davon. Dieses Wegfahren war für mich auch jener Augenblick, als mein Vater zum ersten Mal wirklich nicht mehr da war.

Die nächsten Tage, Wochen und Monate waren dann noch von viel Organisatorischem geprägt. Die Bank hatte das Konto schon am nächsten Tag gesperrt, kurz darauf schon die erste Meldung: Strom-Rechnung konnte nicht abgebucht werden. Nicht gerade jene Dinge, mit denen man sich in der Trauer-Phase beschäftigen möchte. Dann das Begräbnis: würde es eines mit militärischen Ehren werden? Es würde. Drei voll besetzte Reisebusse mit Soldaten, eine riesige Musik-Kapelle. Kein intimes Begräbnis, aber so hätte er es sich gewünscht.

Bald nun jährt sich sein Todestag zum ersten Mal. Zuvor noch ein erstes Weihnachten, ein erstes Silvester ohne ihn. Das bringt viele Emotionen wieder hervor, nicht zuletzt aber auch Dankbarkeit: es war genug Zeit für Verabschiedung. Er konnte sehr lange Zeit selbstbestimmt mit seiner Krankheit leben. Und er konnte bis zuletzt daheim sein. Sterben geht auch schlimmer.

Allen die bis hierher mitgelesen haben: Danke! Das Thema Tod ist leider ein sehr bedrückendes, das aber zum Glück nicht allzu oft Einzug in unseren Alltag erhält. Umso mehr wünsche ich euch daher schöne, festliche Tage mit allen euren Lieben. Nehmen wir uns die Zeit zu feiern, zu essen, zu leben und zu lieben – der Ernst des Lebens hat uns eh früh genug wieder.

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