Türchen 6 (von Bernhard)

Die Bemalung der Kühe

Der gegenwärtig vorliegende Text behandelt einen denkwürdigen Sachverhalt, der fortan untrennbar mit dem Weihnachtsfest verbunden sein wird. Akteur dieses Sachverhalts ist ein mittlerweile verstorbener, alleinstehender Mann mittleren Alters, der auch kaum Freunde hatte. Warum sich der Mann sozial so schwer tat, mochte wohl an seinen auffälligen Zwangsstörungen liegen. Am vordergründigsten war sein Zwang, Flecken zu reinigen. Wann immer er irgendwo einen Fleck bemerkte, auch wenn dieser sich auf fremdem Eigentum befand, kam er nicht umhin, diesen unbedingt wegputzen zu wollen. Und sofern sich dieser nicht entfernen ließ, konnte er nicht anders, als diesen übermalen zu wollen.

Eines Tages – es sei dazu gesagt, dass dieser Mann am Land lebte – kam er an einem Stall vorbei, blickte durch das Stallfenster und entdeckte im Inneren Fleckvieh. So eilte er schnell zum nächsten Farbenfachgeschäft und besorgte sich mehrere Eimer Lack und dazu einen großzügigen Pinsel. Er brach in den Stall ein und begann Rind um Rind vollständig mit seiner Farbe zu übermalen. Die Farbe bekam dem armen Vieh allerdings nicht gut und es verendete innerhalb weniger Stunden qualvoll. Damit aber nicht genug, denn die Erkenntnis, dass es landesweit viele Ställe gibt, in denen Kühe mit fleckigem Fell existieren, ließen den Mann von nun an nicht mehr ruhig schlafen. Er wurde zum Serientäter, stieg in viele Ställe ein und übermalte das dortige Rind, welches letztlich immer starb.

Schnell erlangte der Fall Berühmtheit, denn die Polizei begann immer großflächiger, wenn auch ohne jeden Erfolg, nach dem Kuhbemaler zu fahnden und so bekamen auch bald die Medien, insbesondere der Boulevard, Wind davon und es gab bald keine bunte Titelseite mehr, in der nicht mit neuen Superlativen von dem unbekannten Täter berichtet wurde, der massenweise Kühe mit seiner Farbe massakrierte. Irgendwann wurde auch die experimentelle Kunstszene auf den Fall des Kuhbemalers aufmerksam. Und während sich der gemeine Volkszorn immer ausufernder mit der Frage beschäftigte, welche brutale Lynchjustizmaßnahme wohl die geeignetste für diesen perversen Tierquäler wäre, begann die experimentelle Kunstszene Verständnis für den Mann zu entwickeln. Sie entdeckten in seinem Vorgehen einen stillen Protest gegen provinzielle Engstirnigkeit und gegen landwirtschaftliche Methoden. Also gab es schnell Nachahmer. In immer mehr Ställe brachen immer mehr experimentelle Kunstschaffende ein und übermalten immer mehr Kühe. Das Problem artete immer mehr aus, immer mehr Kühe erlagen der aufgetragenen Farbe. Nicht nur die Bauern traf dieses Phänomen hart, die gesamte Rindfleisch- und Milchprodukteinsdustrie erfuhr eklatante Einbußen aufgrund von Lieferschwierigkeiten. An den Aktienmärkten brachen die Kurse ein und in weiterer Folge schlitterte die gesamte Volkswirtschaft in eine Rezession.

Im Windschatten der dem Herdentrieb unterlegenen experimentellen Kunstszene, die allen Widrigkeiten zum Trotz weiter Kühe bemalte, ging auch der Initiator des besagten Unterfangens weiter seinen Übermalungsgelüsten nach. Er bewegte sich in so vielen Ställen wie kein anderer. In den Niederungen der darbenden Viehwirtschaft machten sich bald Tierkrankheiten breit, die sich auch auf Menschen übertragen können. Und so kam es, dass sich jener Mann mit einer Krankheit infizierte, die grobe Flecken auf der Haut verursacht. Es war gerade Weihnachten, als der Mann wieder in einen Viehzuchtbetrieb eingestiegen war und dort gerade zufällig Flecken auf seiner eigenen Haut entdeckte. Noch im Stall übermalte der Mann mit jener Farbe, mit der er eigentlich die Kühe bemalen wollte, seine gesamte Haut, vom Stirnansatz bis zu den Zehen. Die Farbe verklebte alle seine Poren und er verstarb noch bevor er den Stall verlassen konnte. Der Mann wurde schließlich am nächsten Morgen aufgefunden und als der initiale Kuhbemaler identifiziert. Sein Tod wurde vom gemeinen Volk frenetisch bejubelt, während die experimentelle Kunstszene nun endlich ein Gesicht und eine Namen zu jener Kunstform erfuhr, das diese nun schon seit Jahren fasziniert.

Die Umtriebe der kunstaffinen Kuhbemaler gingen ungehindert weiter, kaum ein Stall blieb verschont und je härter die Politik dagegen vorgehen wollte, desto populärer wurden Kuhbemalungen. Eines Tages aber wendete sich das Blatt zum Guten. Ein Forschungslabor entwickelte eine neue Farbe, die auf keinste Weise mehr die Gesundheit von Kühen beeinträchtigte, auch wenn sie noch so dick und flächendeckend auf ihr Fell aufgetragen wird. Auf dieser Grundlage wurde das Kuhbemalen schließlich legal. Kuhbemaler konnten von nun an ihrer Tätigkeit nachgehen, ohne dass deswegen Tiere sterben mussten. Die kommerzielle Rindwirtschaft erholte sich schnell, die dezimierten Viehbestände wuchsen wieder an und die Bauern, deren Existenz bis vor kurzem noch am Rande des Abgrundes stand, fanden neben der wiedererlangten Lebensgrundlage auch noch ein weiteres Geschäftsfeld. Sie konnten an Kunstschaffende Bemalungsflächen vermieten, selbstverständlich ist damit das Fell ihrer Kühe gemeint. Ein Angebot, das die experimentelle Kunstszene gerne nutzte. Neben der Landwirtschaft erblühte auch der Kunstmarkt. Für satte Erlöse wurden dort bemalte Kühe versteigert. Das bemalte Rind wurde ins Auktionshaus hereingeführt und von Kunstsammlern für Rekorderlöse erschwungen.

Und jedes Jahr zu Weihnachten wird jenem Mann gedacht, der diese wundervolle Möglichkeit, sich künstlerisch Ausdruck zu verschaffen, ins Leben gerufen hat. Tausende pilgern am 24. Dezember zu jenem nächtlichen Stall, in welchem sich der Kuhbemaler zu seiner letzten Bemalung begab. Die Geschichte des Kuhbemalers und seiner Gefolgschaft ist aus der Weihnachtszeit längst nicht mehr wegzudenken. Mögen die Zeiten auch noch so bewegt und schwierig sein, die Kunde vom Kuhbemaler, der unbeirrt seines Weges ging, spendet in der dunkelsten Zeit des Jahres allen Menschen heute noch Hoffnung.

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