Spurwechsel
Ich habe mich ewig lange vor dem Spurwechsel gefürchtet. Er war mein Feind. Ein nicht zu bezwingender Gegner. Der Blick in den Rückspiegel versetzte mich immer in enormen Stress. Tauchte dort ein Auto auf und war es noch so weit weg, klingelte ein Alarm in mir. Ich wusste nicht was zu tun ist, konnte die Entfernung und die Geschwindigkeit nicht einschätzen. Was tun? “Besser warten”, leitete mich die Stimme in mir an. Bleib auf deiner Spur. Nichts riskieren. Warte. Auch wenn das bedeutete fürs Erste runter vom Gas zu gehen. Warte, bis es vorbeifährt. Du hast Zeit. Kein Stress. Ich lasse es vorbeifahren, dann fahre ich raus. Doch nach dem Auto tauchte noch eines auf – wieder recht weit weg aber doch da. Wieder warten. Wieder ein Auto, noch eines, noch eines und noch eines. Ich sah zu wie Auto um Auto in meinem Rückspiegel auftauchten, blinkten, mich überholten, an mir vorbeizogen als wäre es das natürlichste auf der Welt. Gegeben. Der Lauf der Dinge. Ich hingegen abgebremst auf 90kmh, einem LKW hinterher tuckelnd. Da war ich nun und traute mich nicht raus. Traute mich nicht auf die andere Spur zu wechseln. Es schien unmöglich mich, wie die anderen, in den Fluss des Verkehrs einzuklinken. Mitzufahren. Sich mitnehmen zu lassen mit dem Sog der Straße. Leicht. Flüssig. So als würde man tanzen.
Autobahnauffahrten waren das Schlimmste für mich, mein persönlicher Albtraum. Gezwungen auf kurzer Distanz die Spur zu wechseln schien mir wie russisches Roulette. Was wenn kein Platz ist? Was wenn 3 riesige LKWs dicht hinter einander fahren? Wie konnten alle anderen immer so ein Glück haben und beim Auffahren auf die Autobahn eine Lücke finden, die groß genug war um sich darin einzureihen? Wie machten die das? Zauberei, Glück? Zufall? Ich verstand es nicht und vermied es also Autobahn zu fahren, Bei google maps “Autobahn meiden” als Standardeinstellung – der Umwelt zuliebe 😉 lieber quer durch die Stadt oder umständlich in der Gegend herum. Vor andern Ausreden finden warum ich nicht den schnellsten Weg nehme. Alles aus Angst vor diesem verdammten Spurwechsel! Er trieb mir Angst und Schweiß in den Körper. Eine Stimme die mir sagte, dass ich das nicht kann, nie können werde, dass es böse enden wird und ich eines Tages mich und andere damit in den Tod reißen werde. Ich konnte nicht verstehen warum es andern Menschen nicht auch so erging wie mir, dass andere diese riesige Verantwortung nicht spürten, nicht unter ihr drohten zusammen zu brechen. Warum sie sie nicht mieden? War es ihnen nicht klar? Verstanden sie nicht? Eine Sekunde nicht aufgepasst, einen Moment falsch eingeschätzt, einen kleinen Fehler gemacht- bei 130 auf der Autobahn – Ende. Wieso spürte nur ich das? Wieso war niemand eingeschüchtert von dieser enormen Verantwortung für sich und andere? Es war mir unverständlich. Ich konnte keine Antworten auf diese Fragen finden und fühlte mich anders und unfähig.
Mittlerweilen bin ich eingestiegen in den Strom der Autokolonen. Seit Corona fahre ich viel öfter Auto als früher und konnte dadurch mehr Erfahrungen sammeln. Ich habe dazugelernt und weiß nun, dass ich keine leere Spur in meinem Rückspiegel brauche um die Fahrbahn zu wechseln. Ich kann jetzt besser einschätzen und habe es mehr im Gefühl welche Lücke es mir erlaubt zu blinken und raus zu fahren. Natürlich waren auch ein paar Fehler dabei und mitunter auch brenzlige Situationen. Göttin sei Dank ist nichts passiert. Glück gehört halt auch dazu. Heute jedenfalls bekomme ich keinen Angstanfall mehr, wenn ich weiß ich muss Autofahren. Lieben tu ich es noch immer nicht – oder maximal kurz. Ich fahre nicht gerne nachts, nicht gerne in Gesellschaft (weil ich mich da immer gleich bewertet fühle und noch mehr Verantwortung für den anderen spüre), einparken ist auch nicht meins.
Aber es geht und ich mache es. Ich habe dadurch viele Vorteile. Manchmal nimmt sogar ein kleines Gefühl der Freiheit und Selbstständigkeit in mir Platz und fährt ein Stückchen mit. Das genieße ich, es fühlt sich toll an. Ich bin dann ganz zufrieden mit mir und dem Moment. Es herrscht Frieden in mir. Ich fühle mich, brauche nichts mehr. Das möcht ich nicht mehr missen, möchte nicht mehr dorthin zurück wo ich einst war. Ich merke, dass ich mich in Punkto Autofahren entwickelt habe, ein wenig erwachsen geworden bin. Was zuvor unmöglich schien, ist jetzt möglich. Ein Wunder eigentlich.
Wie schön wäre es dieses Wunder zu kopieren und in andere Bereiche in meinem Leben einzufügen. Copy and paste. Fertig. Also versuche ich diese Erfahrung rüber zu zerren in andere Bereiche in meinem Leben. In meine Trennung, meine Scheidung, meinen Auszug, meine neue Wohnung, meine verkürzte Zeit mit meinen Kindern, mein Einzelgehalt, mein Alleinerzieherinnendasein, mein Singleleben, meine Angst davor im Grunde alleine zu sein, nicht stark genug, nicht gut genug, nicht schön genug, nicht jung genug. Alles einfach mit der gleichen positiven Erfahrung überschreiben. Am Ende wird alles gut. Wie leicht klingt das. Wie cool wäre das. Doch die Wahrheit ist, die Rechtsfahrregel hat mich fest im Griff. Ich begegne den momentanen Herausforderungen in meinem Leben mit guten alten Bekannten. Sicherheit geht vor. Kontrolle muss sein. Rechnen. Planen. Organisieren. Langsam. Leise. Vorsichtig. Besser die anderen machen lassen, die können das besser. Warten. Immer dieses Warten weil die Autos im Spiegel gefühlt im Sekundentakt auf mich zu rasen. Ich kann jetzt zwar Autofahren aber fahre wieder ganz auf der rechten Spur, die Hände fest ums Lenkrad geklammert, angespannt, unentspannt. Bloß keinen Fehler machen, sonst ist alles aus. Jetzt eine falsche Entscheidung und es ist Ende. Dort war ich doch schon – warum bin ich jetzt wieder hier gelandet? Wieder eingequetscht zwischen alten LKWs, abgebremst und passiv, nur reagierend auf das was kommt und hoffend, dass es nicht schlimm wird. Es erscheint mir nicht logisch. Ich habe mich getrennt weil ich schon lange nicht mehr glücklich war. Ich habe so lange mit diesem Schritt gehadert, habe so lange in meiner Spur gewartet bis ich mich bereit für diesen Schritt, für diesen Spurwechsel fühlte. Ich habe den Blinker angeworfen und bin rüber auf die andere Spur. Dort wollte ich mein Leben weiterfahren. Die Kraft in mir, die Sonne im Gesicht, ein Lächeln auf den Lippen, Freiheit im Herzen. Ich wollte mich frei fühlen, fröhlich sein, ausgelassen, selbstbestimmt, neugierig, abenteuerlustig. Ich wollte mit mir an meiner Seite sein. Mir genug sein.
Was ist passiert? Warum finde ich mich an vielen Tagen wieder in meiner LKW Spur, in meiner inneren Blechkolone aus Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel, Angepasstsein und Fremdbestimmtsein.
Der Verstand kommt mir zu Hilfe, er weiß, dass Entwicklung Zeit braucht und viele Wiederholungen, dass es gute und schlechte Tage gibt. Dass ich schon viel geschafft habe und auch das schaffen werde. Dass Veränderung Angst macht. Dass das alles normal ist. Das Gefühl ist aber enttäuscht die altbekannten Wege nicht endlich hinter sich zu lassen. Immer wieder auf die rechte Spur zu rutschen.
Ich versuche an solchen Tagen besonders nett zu mir zu sein. Sage mir, dass es okay ist so zu fühlen, dass es okay ist wenn man Angst hat, wenn man enttäuscht ist, dass es okay ist etwas nur halb gut zu machen, dass es okay ist momentan nicht das Ideale für sich und seine Kinder schaffen zu können, dass es okay ist einfach sein Bestes zu geben. Das es okay ist so wie es gerade ist.
Etwas in mir weiß, dass es sein wird wie beim Autofahren, dass der Tag kommen wird an dem ich merke, dass ich wieder wie selbstverständlich den Blinker drücke und rüber ziehe auf die andere Spur. Dass ich es tue ohne mich zu fragen ob ich es überhaupt kann. Dass ich mein neues Leben genieße, das Positive drinnen sehe, das Beste daraus mache, es nicht so wichtige nehme. Ich tue es einfach und kann es einfach. Und dann fahre ich als ob es immer so gewesen ist.
Ob auf altbekannten Wegen oder auf der Überholspur, ich wünsche allen ein gutes und gesundes Ende für dieses Jahr und von Herzen einen glücklichen Neubeginn im nächsten Jahr. Einen Aufbruch, wenn die Zeit reif ist und genug Zeit, wenn man aufgebrochen ist. Den Mut, die Spur zu wechseln und die Zuversicht, den richtige Augenblick dafür zu finden.
Alles Liebe Doris
