Gedankenspiel
Vor kurzem wurde ich von meinem 6-Minuten-Tagebuch gefragt „Was steht zwischen Dir und Deinem idealen Leben?“. Darüber wollte ich mal nachdenken, das ist nämlich eine sehr gute Frage. Wie sieht überhaupt meine Vorstellung von meinem idealen Leben aus, fragte ich mich in Folge. Denn darüber habe ich ehrlich gesagt nie intensiv nachgedacht. Doch nach Jahren des Ausgebrannt-seins, gesundheitlicher Probleme, einer sich in die Länge ziehenden Scheidung und anderen Herausforderungen des Lebens stehe ich nun an dem Punkt, an dem ich mir erlauben kann, mir diese Frage zu stellen. Und dabei wird mir klar, dass – ja, ein freies Leben in Fülle irgendwo auf einer Südseeinsel wäre schon auch fein – im Grunde gar nicht so viel fehlt. Gesundheit, natürlich, die ist am guten Weg und die kann ich mir weiter erarbeiten, ich bin dran und mache Fortschritte. Eine gesunde und glückliche Tochter und eine gute Beziehung zu ihr – ja, hab ich und arbeite gern weiter daran. Ein schönes Zuhause, sonnendurchflutet und klar – fehlt nicht soo viel. Pflanzen um mich, viel Natur in der Nähe – alles da. Eine sinnstiftende Arbeit, die mir Freude macht und mir Energie gibt, natürlich darf auch (u.a. finanzielle) Wertschätzung dafür fließen – gut, da ist noch Luft nach oben. Und ich möchte Zeit für mich, Zeit für meine Langsamkeit, für achtsames Leben. Gute Freunde, liebevolle Beziehungen, die Liste geht noch weiter, you get the picture. Also rein faktisch gesehen scheint ja nicht so unmöglich viel zu fehlen.
Ich habe, um auf die Frage meines Tagebuchs zurückzukommen, festgestellt, dass es in erster Linie alte Muster und falsche Glaubenssätze sind, die zwischen mir und meinem idealen Leben stehen. Zum Beispiel dieser tief verankerte Glaubenssatz, das Leben sei nun mal anstrengend, „hart und ungerecht“. Oder dieser ständige Fokus auf Leistung an oberster Stelle. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ usw. Wir kennen sie wohl alle. Und vermutlich bin ich nicht die Einzige, die unbewusst nach ihnen lebt. Aber will ich das wirklich? Dass das Leben hart ist und ungerecht? Dass ich nur dann wertvoll bin, wenn ich 40, 50 oder noch mehr Stunden pro Woche einem Beruf nachgehe, der mich in Wirklichkeit ausbrennt? Nein, danke, das ist nicht das, was ich gebucht habe.
Wie wäre es also, mal neue Gedanken auszuprobieren? Was würde ich zB. anders tun, wenn ich jetzt vollkommen frei wäre? Ich würde wohl genauso mit dem Fahrrad zu meinem Termin fahren, wie jetzt gerade, vielleicht würde ich mich nur nicht darauf fokussieren, dass ich mich beeilen muss und wie viele To Dos heute noch auf mich warten, sondern auf die Freiheit in der geschmeidigen Bewegung, den Blick auf die bunten Farben im Spätherbst genießend, die Freude am Fahren trotz Kälte. Plötzlich muss ich lächeln. JETZT lebe ich meinen idealen Moment! Wäre ich Millionärin (denn das war meist meine Idealvorstellung von Freiheit), würde ich dann anders unterwegs sein? In diesem Moment nicht, am Liebsten fahre ich ja eh mit dem Fahrrad. Würde ich meine Wäsche anders aufhängen, würde ich sie überhaupt noch selbst waschen? Ja, ich hänge gern Wäsche auf, aber ich müsste nicht mehr und würde es nur aus Freude tun, wenn ich will, dafür achtsam. Was hält mich also davon ab, es jetzt auch so zu tun? Eigentlich nichts! Meine Pflanzen würde ich auch selber pflegen. Ich würde vielleicht nicht mehr viel putzen, meine Haushaltshilfe dürfte öfter kommen. Aber ich würde mir ja nie alle Handgriffe abnehmen lassen, was wäre dann noch übrig? Also ist für mich der Unterschied in erster Linie das WIE. Wie mache ich die Dinge des Alltags. Und warum. Mein Fokus liegt dann auf dem Genuss im Tun, der Achtsamkeit. Und das Warum wird ein „weil ich es möchte“ statt eines automatisierten „ich muss“. Ich möchte Ordnung um mich haben, also räume ich genussvoll auf, denn im Tun liegt schon die Vorfreude auf das Ergebnis.
Ich stelle fest: Es trennt mich also gar nicht viel von meinem idealen Leben (mal abgesehen von der Südseeinsel). Sehr vieles ist einzig in meinem Kopf. Da seh ich plötzlich diesen Schalter, den ich bedienen kann. Ich kann jeden Moment neu entscheiden, mein ideales Leben jetzt schon zu leben. In jedem Handgriff, in jeder Aufgabe. Und ich kann mir Ziele setzen, deren Weg zur Erreichung mir schon Freude bereitet. Wie schön, hier angekommen zu sein. Nach diesem langen Tal wieder bergauf zu gehen, wieder die Sonne sehen. Ich freue mich, weiterhin hier zu sein. Denn das Leben ist wieder schön.
