Türchen 1 (von Bernhard)

Unsere Tochter ist hochbegabt

Dieses Jahr kam unsere Tochter auf die Welt und ehe sie das Fruchtwasser ausspucken konnte, wurde uns klar: Hier muss eine Hochbegabung vorliegen! Während die anderen Säuglinge auf der Station ihr Dasein mit neugeborenentypischen Aktivitäten wie der Veräußerung erster Ausscheidungen fristeten, war unsere Tochter schon mit den tiefsinnigeren Fragen des Lebens beschäftigt und brachte ihren Weltschmerz ganztägig zum Ausdruck.

Von nun an wollten wir keine Zeit mehr verschwenden, denn wenn wir wirklich wollen, dass unsere Tochter noch im Vorschulalter die Universität “cum laudae” abschließt, sollten wir mit allem schon viel früher beginnen. So begannen wir beispielsweise schon in der zweiten Lebenswoche Beikost zu füttern. Und um gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu erschlagen, bekam sie eine Buchstabensuppe, denn so konnte unsere Tochter auch gleich Lesen und Schreiben erlernen. Blöderweise dürfte sich aber ein “J” mit ihrem Gaumenzäpfchen verheddert haben (oder ein anderer Buchstabe mit Widerhaken), denn das gesamte Nudelalphabet wurde mitsamt Stangensellerie und Brühe sogleich wieder erbrochen. Ein Spezialist, den wir kurz darauf aufsuchten, um ihre Dyslexie zu behandeln, wies darauf hin, dass der Verzehr einer Buchstabensuppe nicht notwendigerweise zum Lesen und Schreiben befähigt. Als wir darüber nachdachten, konnten wir dieser Einschätzung durchaus etwas abgewinnen. Schließlich können Babys die Buchstaben im Mundraum nicht sehen, lediglich mit der Zunge ertasten. Also bereiteten wir erneut eine Suppe zu, diesmal mit Brailleschrift-Nudeln als Einlage.

Nachdem unsere Tochter auch diese Suppe nicht halten konnte, mussten wir umdenken und wir fanden den Fehler bei den Zuständigkeiten. Wieso sollten wir selbst unserer Tochter Lesen und Schreiben beibringen, wenn es dafür eigentlich ein Bildungssystem gibt? Wir als Eltern haben mit dem Hochbegabungs-Spektrum unserer Tochter ja ohnehin schon ein hartes Los gezogen. Also suchten wir eine auf Montessori-Pädagogik spezialisierte Elite-Privatschule auf, um dort feierlich unsere Tochter anzumelden. Die Schuldirektorin jedoch reagierte abschlägig, da unsere Tochter ihrer Meinung nach noch nicht die Schulreife erlangt habe. “Sie sollte doch zumindest aus den Windeln raus sein”, sagte sie.

Wir entledigten also unsere Tochter ihrer Windel und um die Chancen zu verbessern, gaben wir unserer Buchstabensuppen-Strategie einen neuen Anlauf. Am nächsten Tag suchten wir also erneut die Leiterin der Privatschule auf. Auf dem Weg zum Direktorenzimmer bemerkten wir, dass es schon seit längerer Zeit seitlich aus dem Strampler unserer Tochter in bräunlichem, wenn nicht senfgelblichen Ton herabtropfen musste, denn der gesamte, von uns zurückgelegte Weg konnte bis zum Schuleingang zurückverfolgt werden. Als wir das Zimmer betraten, erbrach unsere Tochter plötzlich 5 Liter Brailleschrift-Suppe, die wir ihr kurz davor verabreichten. Unverzüglich hob die Direktorin den Telefonhörer ab, rief bei irgendeiner Nummer an und sagte: “Ich habe hier ein Kind, dem besondere Beachtung zukommen sollte!”

Wir hatten es also geschafft! Die Besonderheit unserer Tochter wurde erkannt. Zufrieden gingen wir nach Hause. Am nächsten Tag kam bereits ein ganzes Betreuungsteam bei uns zu Hause vorbei und nahm unsere Tochter mit. Sie zeigten uns ein behördliches Dokument und teilten uns mit: “Sie sind ab sofort von der Obsorgepflicht Ihrer Tochter entbunden!”. Nun kümmerte sich also der Staat um ihre Fortentwicklung. Endlich war unsere Tochter in den richtigen Händen! Seitdem haben wir auch nichts mehr von ihr gehört.

Nun ist Weihnachten, und wir fragen uns, wie steil ihre Karriere wohl schon vorangeschritten sein muss. Wird es ihr überhaupt möglich sein, ihr erstes Weihnachten feierlich zu begehen oder zwingt sie der akademische Wettbewerbsdruck zum Verfassen eines Papers für ein Journal selbst in dieser hochheiligen Nacht? Natürlich vermissen wir sie, aber wenn sie es einmal besser haben sollte als wir, dann ist es gut und recht, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse zurückstecken. Und solltet ihr unserer hochbegabten Tochter auf irgendeiner High-Potential-Jobmesse begegnen, richtet ihr aus, dass wir unfassbar auf sie stolz sind.

Türchen 14 (von Richard)

Die Bitte ist, etwas Persönliches zu schreiben. Also gut, was Persönliches. Ich weiß aber nicht, ob es eine Geschichte ergibt, oder einen Zusammenhang mit irgendwas, oder letztlich überhaupt einen Sinn. Aber ich will schreiben, ich will, weil ich schreibe, denken, nachdenken. Möglicherweise bleiben nur ein paar Fragen übrig.

Heuer ist der Bruder einer Freundin gestorben. Einfach so. M war etwas jünger als ich, stand mitten im Leben, lebte gesund, achtete auf sich. Nichts deutete darauf hin, dass er bald sterben muss. Er hat sich Abends hingelegt und ist nicht mehr aufgewacht. Nicht einmal eine Obduktion konnte klären, woran er gestorben ist, einfach so. Auch das passiert.

M hatte eine tolle Beziehung zu seiner Schwester, sie haben nebeneinander gewohnt, sie hat ihn auch gefunden. Sie haben immer viel Zeit miteinander verbracht, ihre Leben miteinander gelebt. Deshalb habe auch ich M hin und wieder gesehen, ihn kennenlernen dürfen. Ein lebenslustiger Mensch, sehr schlau, humorvoll, begabt. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber er war ein Mensch, bei dem man sich wünschte, dass man ihn näher kennenlernen würde. Das geht nicht mehr, denn M ist gestorben, im August.

Der Tod von M hat mich beschäftigt, zunächst vor allem, weil seine Schwester leidet. Wir, die Freund:innen von ihr, haben versucht Trost zu spenden. Was lässt sich angesichts der Absurdität des Todes und vor allem dieses Todes sagen? Wie lässt sich Trost finden, Frieden finden, angesichts der großen Leere, der Lücke, der Dunkelheit, die der Tod hinterlässt? Wir haben versucht für sie da zu sein, aber was heißt das – die Lücke bleibt.

Natürlich habe ich auch nachgedacht, über den Tod von M. Über das Rätsel, das mir und uns der Tod von M aufgibt. Die eigene Endlichkeit, die Endlichkeit des Lebens, aber auch die Endlichkeit der eigenen Wirksamkeit. So viele Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Auch wann wir gehen müssen, oder unsere Liebsten. Die Aufgabe besteht darin der Endlichkeit wach ins Auge zu sehen und nicht daran zu verzweifeln. Beides ist eine Aufgabe.

M ist zu früh gestorben. Es ist nicht in Ordnung, dass jemand stirbt, ohne ersichtlichen Grund (also etwa risikoreiches Verhalten), so jung. Das Vertrauen, dass es da irgendeine Art von Fairness gibt, ist ausgehöhlt. Wahrscheinlich ist M der erste meiner näheren oder ferneren Bekannten, die verstorben ist. Jemand, der jünger ist als ich. M’s Tod hat Bedeutung für sich, und als Verweis auf etwas anderes. Bedeutung für sich hat sein Tod, weil M fehlen wird, weil er in unserem kleinen Freundeskreis immer eine Lücke hinterlassen wird, weil er seiner Schwester und damit immer fehlen wird. Und er ist ein Verweis auf anderes, auch die eigene Endlichkeit und die Endlichkeit von allem, die ohnedies niemand begreifen wird können. Kann man? Und natürlich ist der Verweis auf die Endlichkeit nicht nur ein Verweis auf den Endpunkt, sondern vielmehr auf die Zeit, die es bis dahin noch geben mag. Und diese Zeit gewinnt an Bedeutung, die Zeit ist das einzige, was wir haben. Und damit natürlich sofort die Frage, was macht man mit dieser Zeit?

Sich um Dinge zu kümmern, zu bekümmern, die man nicht verändern kann, ist ein bisschen vergeudete Liebesmühe. Vielleicht sollte der Fokus auf die Dinge gerichtet sein, die für uns veränderbar sind, die wir ändern können. Auf uns, unsere Beziehungen, auf unser Sein in dieser Welt. Der Tod ist das Problem der Lebenden, ist der einzige Trost, dem man sich schenken kann. Der Tod ist das Problem von uns, nicht von M.

Ich habe die Einladung zu schreiben und damit nachzudenken dankbar angenommen. Ich wünsche Euch allen Schöne Feiertage, wunderbare und besinnliche Rauhnächte und alles Glück der Welt im neuen Jahr!

Türchen 3 (von Karo)

In der diesjährigen Ausgabe von “Karos Food for Thoughts” geht es um:

Ankommen

Hektischer Alltag, viele Überstunden, keine Hobbies mehr und kaum noch Zeit für Freunde und
Familie? Hamsterrad? Alarmstufe rot?

Warum fühlt es sich für mich nicht an als käme ich irgendwo an? Gehe ich zu viele Umwege? Und werde ich jemals da ankommen, wo ich eigentlich hinwill? Wie kann ich diese innere Unruhe stillen?

Ich atme einmal feste durch.

Aus allen Blickwinkeln versucht mein analytischer Kopf dem Herzen zu helfen und dem Thema auf den Grund zu gehen. Auf der Suche nach Antworten lese ich Bücher, stöbere mich durch bekannte und unbekanntere Gedichte, höre Podcasts und kontaktiere alte Bekannte, gute Freunde und meine Familie. Ich führe lange tiefgründige Gespräche, weine und lache zusammen mit anderen Menschen, denen es so zu gehen scheint wie mir. Auf diesem Weg mache ich sogar einige neue Bekanntschaften!

Da wird mir klar wie schnell die Zeit vergeht und wie wichtig es ist sich Zeit zu nehmen. Zeit ist kostbar und gewinnt noch viel mehr Wert, wenn man sie mit besonderen Menschen teilt.

Ich stelle mir die folgenden Fragen:

Wem bin ich bisher auf meiner Lebensreise begegnet? Wer hat mich beeindruckt, wer inspiriert? Wer hat mich aufgezogen und erzogen? Wer hat mich besonders geprägt und wem würde ich ungern noch einmal begegnen? Wen vermisse ich so sehr, dass ich gerne die Zeit etwas zurück drehen würde? Nur noch einmal die Stimme hören oder eine feste Umarmung teilen? Wer begleitet mich noch immer und auf wen kann ich mich hundertprozentig verlassen? Genau diese Menschen habe ich in den vergangenen Wochen gesucht und auf verschiedene Arten Kontakt aufgenommen.

Je mehr meine Gedanken kreisen, desto klarer wird mir, dass zum Ankommen auch eine Reise gehört. Vielleicht ist es gar nicht so gut so verkopft auf ein Ziel zuzurennen oder auf das Ankommen zu warten? Denn der Weg IST ja bekanntlich das Ziel. Und der darf auch länger sein als gedacht!

Hiermit wünsche ich euch allen eine wunderschöne ruhige Weihnachtszeit. Kommt dankbar für alle Abenteuer dieses Jahres im Neuen Jahr an und nehmt euch Zeit.

Ankommen

Ankommen, ein Moment, so still,
Wo der Weg sich legt, wo alles ruht.
Die Reise endet, die Füße still,
Und Frieden füllt den inneren Mut.
Kein Weiter, kein Hasten mehr,
Der Horizont, er bliebt nun klar,
Die Zeit, sie fließt nicht mehr,
Das Ziel ist nah, das Ziel ist da.
Der Atem wird ruhiger, der Blick weit,
Ein Ort des Friedens, der das Herz beglitten.
Erfüllt von Licht und Heiterkeit,
Hält der Moment, was wir lange fanden.
Ankommen, das ist nicht das Ziel,
Sondern das Gefühl, das uns umfängt,
Ein Lächeln, das die Seele spielt,
Weil hier alles ist, was uns fehlt.

Türchen 2 (von Martina)

Bald ist es so weit, das Jahr 2024 neigt sich dem Ende zu. Viele Tage, Wochen, Monate gefüllt mit Erlebnissen, Hoffnungen, Träumen, Ängsten und Erwartungen wurden gelebt. Was hat dieses Jahr für mich gebracht? Es hatte es auf jeden Fall in sich. Es war ein Jahr der Freundschaften, die sich entwickeln konnten, ein Jahr der neuen Begegnungen, ganz besonders viele Gefühle konnte ich spüren. Viele Momente der Traurigkeit und Wut habe ich erlebt, genauso intensiv wie Momente des Glücks, der Liebe, der Geborgenheit und Abenteuerlust. Ich schaffe es nach und nach alte Ängste, Erlebnisse und enttäuschte Hoffnungen loszulassen und mich dadurch freier zu fühlen. Mir wurde erst heuer so richtig bewusst, welche Verletzungen ich mit mir herum trage, dass ich nicht nur zu meinem Umfeld, sondern auch für mich Mitgefühl zeigen möchte, dass auch ich es verdient habe glücklich zu sein. Das ist ein großer Schritt für mich, ich habe das Gefühl zu mir zu finden und Stück für Stück zu heilen. Besonders bereichert fühle ich mich durch einen ganz bestimmten Menschen, der mich sieht und annimmt, mehr als ich mich annehmen kann mit meinen Schwächen und Besonderheiten. Erst seit wenigen Monaten gehen wir gemeinsam durchs Leben, Seite an Seite, Hand in Hand und es fühlt sich an, als würde sich ein fehlendes Puzzlestück nun gefunden haben und es nun ein großes Ganzes gibt. Es fühlt sich wie heimkommen an, ankommen. Das ist es, wonach ich mich gesehnt habe, geliebt und gesehen zu werden.

Danke an den Mann an meiner Seite ❤️ &  Danke an das Jahr 2024, dass ich dich so intensiv leben durfte. Ich freue mich auf deine Nachfolgerin 2025 ❤