Türchen 1 (von Doris)

Wenn das Leben mal zu viel ist

Ich habe schon lange keine Skrupel mehr in einem vollen Zug zu weinen. Okay, vorzugsweise in der Zweierreihe. An Weinen am 4er Platz mit Tisch kann ich mich nur einmal erinnern und an einen jungen Mann mir gegenüber, der dadurch oder sowieso, wer weiß das schon, sehr intensiv etwas in seinem Handy angesehen hat. Am 3er Bankerl vis a vis oben nach der Stiege habe ich noch nie geweint – das ist nichts für mich. Dort würde ich nicht weinen. Wie gesagt ich bevorzuge die 2erReihe, da kann ich am besten weinen. Auch wenn jemand neben mir sitzt, aber am liebsten wenn dieser jemand mein Rucksack ist.
Ich weiß nicht genau, warum die Tränen so oft im Zug kommen. Vielleicht weil es einer der wenigen Orte ist, wo ich tatsächlich alleine bin. Wo niemand was von mir will. Nicht mal ich selbst.
Ich erwarte nichts von mir in dieser Zugzeit und das ist vielleicht das Schönste daran.
Ich darf dort einfach sitzen. Ich habe einen Platz. Ich bin einfach da. Sonst nichts. Kein Anspruch. Keine Forderung. Keine Rolle zu spielen. Keinen Auftrag zu erfüllen.
Wenn die Welt da draußen dann links und rechts an mir vorbeizieht, rücke ich automatisch ein Stückchen nach Innen, Richtung zu mir selbst.
Und da ist sie dann. Schlagartig. Eine Mischung aus Loslassen und Traurigkeit breitet sich wie ein Lauffeuer in mir aus und füllt meine Augen mit Tränen. Sie hüllt mich ein, nimmt mich mit, weiter zu mir selbst. Die Welt da draußen verschwimmt.
Ich kann nichts tun. Ich muss nichts tun. Es passiert einfach, es fühlt sich gut an es einfach laufen zu lassen. Das bisschen Zuviel grad im Leben einfach überlaufen zu lassen. Ablaufen zu lassen. Ich frage mich nicht mehr warum genau ich weine, was genau passiert ist.
Es ist einfach so. Ich weine und weine. Und es ist gut. Es befreit. Es darf sich zeigen.
Die Tränen laufen mir die Wangen runter, sie tropfen von meinem Gesicht auf meine Schultern.
Es kommt der Punkt da kämpft sich die Welt da draußen wieder in meine Gedanken. Ich wische die Tränen aus meinem Gesicht, möglichst unauffällig. Was denken die anderen? Eine Frau, die im Zug weint, das irritiert doch, vielleicht stört es manche, vielleicht fühlen sich manche überfordert damit. Das will ich natürlich nicht. Am liebsten würde ich kurz aufstehen und klarstellen „ist nicht so schlimm, alles gut, nur grad zu viel alles, weitermachen hier gibt es nichts zu sehen und nichts zu tun“.
Das tue ich aber natürlich nicht. Viel zu peinlich. Die Außensicht hat mich wieder voll im Griff – die Angst andere zu irritieren geht in die Sorge über, dass mein Make-up zerstört ist, meine Haut nicht mehr makellos erscheint, was sie sowieso nicht ist. Meine Wimperntusche verlaufen ist und ich wie ein trauriger Clown aussehe. Ich weine weiter und wische Göttin sei Dank auch diese Gedanken mit den nächsten Tränen weg.
Es weint einfach in mir. Wein und weint. Ich lasse es zu. Ich lasse los.
Die Tränen laufen, ich weine, ich wische sie weg, sie kommen wieder, ich wische und wische. Es fühlt sich auf einmal an als würde ich mir mein Gesicht waschen. Mit meinen Tränen.
Es fühlt sich an als wasche ich mit meinen Tränen eine Stück der Maske ab, die ich oft aufhabe; als wasche ich den Versuch weg mich ständig schützen zu müssen, ich wasche das Lächeln weg wenn ich eigentlich Angst habe, das Starksein wenn ich mich in Wirklichkeit gerade verletzt fühle, das Lustigsein damit niemand merkt wie unsicher ich gerade bin.
Wie wäre es wenn meine Tränen das tatsächlich könnten? Wer wäre ich dann? Wer bliebe über?
Ich mag diese Gedanken, sie lassen mich lächeln und mich wohlig warm fühlen. Meine Tränen, die mir helfen Schichten abzuwaschen, die ich nicht wirklich brauche, die mich nur so sein lassen wie ich glaube sein zu sollen. Tränen, die mir helfen etwas auszugraben. Etwas Echtes, Pures, Unbewertbares. Dann wären die Tränen meine Freundinnen, Helferinnen, Verbündete. Sie belohnen mich für Momente, in denen ich zu mir stehe, dann wenn ich mich wichtig nehme, wenn ich mich verteidige, wenn ich mich ernst nehme, wenn ich mir zuhöre, wenn ich nicht den Umweg über andere nehme um mich wertvoll zu fühlen. Gut und schlecht verschwimmen. Sind die Tränen das Problem oder die Lösung? Egal, sie schenken mir ein Stück Erleichterung, ein Stück Loslassen, Dankbarsein, mich spüren. Einen Moment Ich sein.

Ich wünsche allen eine schöne Vorweihnachtszeit mit viel Spüren, Loslassen und ab und zu ein paar Tränen.

2 thoughts on “Türchen 1 (von Doris)

  1. Ich frage mich gerade ob es Lach-Yoga auch fürs Weinen gibt?

    Ich weine nämlich auch gerne. Auch meinst alleine. Das ist dann wie der tiefste Atemzug, den man machen kann. Wie Bergluft und Spazieren am Meer gleichzeitig.

    Wir sollten glaube ich mal gemeinsam weinen.

    Dein Beitrag ist schön.

    Ich hab auch wieder ein bisschen geweint — DANKE dafür.

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