Meine Oma ist dieses Jahr gestorben. Und als ich sie das letzte Mal gesehen habe im Krankenhaus im Sommer – ein paar Wochen vor ihrem Tod – hab ich sie beobachtet. Ich hab irgendwie gespürt, dass das ein Abschied ist. Und sie hat es – glaub ich – auch gespürt, dass sie bald gehen wird.
Meine Mutter war beim Besuch dabei und meine beiden Kinder. Die Gespräche, die wir geführt haben waren nicht von besonderem Inhalt. Aber da war etwas in der Luft, die
Art wie meine Oma sich bewegt hat, wie sie sich umgesehen hat. Sehr bewusst würde ich sagen. So als wüsste sie, dass sie es nicht mehr so oft erleben wird. Ich hatte das
Gefühl, als hätte alles was passiert – wirklich alles – eine besondere Bedeutung. Jede Berührung, jeder Blick, jeder Wortaustausch, auch wenn er noch so banal war.
Meine Mutter hatte ihr Orangensaft mitgebracht. Eine kleine Flasche vom Supermarkt, nix Besonderes. Meine Oma hat einen Schluck genommen, ihn geschmeckt, nachwirken lassen und gesagt: “So ein Orangensaft is wirklich wos Guads”. Als hätte sie noch nie etwas so Wunderbares getrunken. Sie hat sehr beseelt gewirkt.
Eine Zeit lang hat sie aus dem Fenster gesehen, auf den Himmel, dann sich wieder im Raum umgeschaut und irgendetwas über ihre Zimmerkolleginnen und das Personal
gesagt – irgendein Klatsch – und dabei geschmunzelt und gescherzt. Und sie hatte so viel Freude in jedem einzelnen Moment, saugte sie auf diese Momente;
jede Sinneswahrnehmung, jedes Wort, jede Bewegung, ob im Raum, von uns, oder ihre eigenen Bewegungen, große und kleine. Schlicht: das Leben.
Alles was lebendig war. Und ich hatte den Eindruck, dass sie es so unglaublich genießt – trotz der Schmerzen – einfach noch ein bisschen das Leben zu spüren, in
sich und um sie herum, und es hatte etwas Wahrhaftiges.
Ich wäre gerne noch länger bei ihr geblieben und hätte gern ihre Hand gehalten oder mich mit ihr über irgendetwas unterhalten – egal was. Wäre einfach nur gern mit
ihr da gewesen, im Moment. Aber ich hab gespürt, dass es Zeit war für die Kinder zu gehen. Ein Szenenwechsel war notwendig.
Am 26. September ist sie gestorben und so traurig es war, hatte ich doch meinen Frieden damit, weil ich diese wunderbaren letzten Momente noch mit ihr erleben durfte. Und es hat mich wieder daran erinnert, wie gern ich eigentlich lebe und was eigentlich das Wichtigste ist: da zu sein, im Moment zu sein, genau hier und jetzt, egal womit man gerade seinen Moment verbringt; allein, beim Auto fahren oder Wäsche waschen, beim Liebesspiel, beim Masturbieren, beim Müll runter tragen, beim Telefonieren, beim Musik hören, beim Duschen, am Klo, beim Schlafen, beim Rechnungen zahlen, beim Lachen, beim Hirnwichsen, beim Excel-Tabellen-erstellen, beim Aufräumen, beim Meditieren, beim Essen, beim Reden, beim Diskutieren, beim Beziehung beenden, beim Binchwatchen, beim Nicht-in-die-Gänge-kommen, beim Party machen, beim Einkaufen, beim Einkaufsliste schreiben, beim keinen-Bock-auf-Einkaufsliste-schreiben-haben,… Egal was wir gerade machen und wo wir gerade sind; das ist unser Moment. Und das Leben besteht aus einer Aneinanderreihung von Momenten. Und wir wissen nicht, wie viele wir noch davon haben.
In diesem Sinne wünsch ich Euch einen wunderschönen 4. Adventsonntag, besinnliche Weihnachten und spannende Raunächte, denen eine besondere Magie innewohnt. Wer weiß, was sie dieses Mal für uns bereit halten!