Ich hoffe, ihr seid jetzt nicht schockiert, denn ich werde jetzt über Sex schreiben – na ja, eigentlich über das Sprechen über Sex. Denn ich finde: es würde uns allen gut tun – ob wir in Beziehungen sind oder nicht, ob wir ihn haben oder nicht, ob wir ihn haben wollen oder nicht – mehr über Sex zu sprechen.
1. Ist das nicht voll peinlich?
Ja, das ist voll peinlich. Und ich bin sicher ziemlich oft voll peinlich. Aber wisst Ihr was: ist der Ruf erstmal … genau! Und ein ungeniertes Leben ist ein ziemlich schönes Leben! Aber ich weiß schon was Ihr meint: ihr wollt niemandem zu nahe treten (ich habe ja die Vermutung, dass diese Angst, jemandem zu nahe zu treten, in Österreich besonders stark ausgeprägt ist). Ich denke aber, dass es kaum möglich ist, anderen Menschen nahe zu kommen, ohne zu riskieren, ihnen auch mal zu nahe zu treten. Und ich wette mit Euch: wenn Ihr anderen Menschen Dinge erzählt, die Euch ein wenig peinlich sind, dann werden sie sich Euch auch öffnen. Und plötzlich ist das Peinliche, Schlimme, Perverse gar nicht mehr ganz so peinlich, schlimm und pervers.
2. Sollten wir nicht lieber einfach Sex haben, anstatt drüber zu sprechen?
Jein. Gegen Sex haben ist nichts einzuwenden, im Gegenteil.Wenn er einvernehmlich geschieht und alle Beteiligten glücklich macht. Und genau deswegen ist über Sex sprechen wichtig. Denn nur wenn wir aussprechen können, welche Ideen und Szenen und Vorlieben unsere geheimen Träume bevölkern, haben wir die Chance, an jemanden zu geraten der/die sagt: ja genau, davon träume ich auch manchmal, lass es uns tun! Oder zumindest: davon habe ich zwar noch nie geträumt, aber weißt Du was, jetzt bin ich neugierig! Über Sex sprechen zu können, hilft nicht nur dabei, guten Sex zu haben, sondern auch einvernehmlichen Sex zu haben. Es ist in letzter Zeit viel diskutiert worden über das schwedische Gesetz, das vorschreibt, dass vor dem Sex beide Partner*innen explizit ihre Zustimmung zu signalisieren haben. Ich finde das eine gute Lösung um halbherziges Mitmachen zu verhindern, nur weil es jemand nicht geschafft hat, rechtzeitig ein „vielleicht doch lieber nicht“ zu signalisieren. Sie setzt aber voraus, dass wir es schaffen, explizit um Sex zu bitten, danach zu fragen, ob der/die andere ihn auch möchte, ohne so rot zu werden, dass das Blut in anderen relevanten Regionen fehlt. Und genau deswegen sollten wir es lernen.
3. Wird nicht genug gesprochen über Sex?
Ja und nein. Es wird zu viel über Sex gesprochen und zu viel Sex gezeigt – in den Medien, in der Werbung, in Lebenshilfebüchern, in schlechten Pornos (und die meisten Pornos sind schlechte Pornos) – und gleichzeitig viel zu wenig von normalen Menschen wie Dir und mir. Das Bild, das wir von Sex haben, ist in unverhältnismäßig hohem Ausmaß von sehr speziellen Akteuren geprägt. Sex dient dazu uns zu umgarnen, uns zu Konsum zu verführen, uns zu erregen und unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Kein Wunder, dass wir mit vollkommen unrealistischen Bildern von Sex konfrontiert sind. Ich würde behaupten, dass diese Bilder uns mehr schaden als nutzen, sie uns eher in die Irre leiten als aufklären und bilden. Weil sie mit dem Sex, den Du und ich haben, nicht viel zu tun haben. Weil sie uns mit unrealistischen Leistungsmaßstäben konfrontieren – wo doch Leistung das Letzte ist, was uns zum Thema Sex einfallen sollte. Weil sie nicht absichtslos abbilden, sondern (andere) Ziele verfolgen. Aber auch: weil es eben tatsächlich meist Bilder sind: Sex kommt in der Öffentlichkeit meist in bildlicher Form vor. Doch der Sex, den wir haben und den wir gerne hätten, der ist so viel mehr: er ist eine Phantasie, ist gesprochenes Wort, Berührung, Atem, er riecht und schmeckt. Er lässt uns fühlen und zittern. Ich behaupte mal, mit Worten, und zwar unseren eigenen, kommen wir dem so viel näher, können ein so viel genaueres, schöneres und vor allem weiteres und vielschichtigeres Bild dessen zeichnen, was uns Menschen sexuell möglich ist. Und das hilft dann wirklich, bildet, klärt auf, eröffnet Möglichkeiten.
4. Dass wir mit unseren Liebsten über Sex sprechen sollen, OK. Aber mit anderen Menschen?Gehört Sex nicht einfach ins Schlafzimmer und nicht in die Öffentlichkeit?
Nein. Sex gehört in die Öffentlichkeit. Also das Sprechen darüber. Denn er ist schon längst dort. Siehe 3. Er gehört aber auch deswegen dorthin, weil, wie die 68er schon wussten, das Private politisch ist. Und weil wir, denen es verhältnismäßig leicht fällt, über unsere Sexualität zu sprechen, dadurch Menschen helfen können, denen es nicht so leicht fällt, denen Sex, ihre sexuelle Orientierung, ihre sexuellen Wünsche und auch Nicht-Wünsche zum Problem geworden sind, die von den engen Vorstellung, die so zirkulieren, eingeengt werden, oder gar die ihre Sexualität nicht offen leben können, ohne verspottet, bedroht und manchmal sogar von ihren Familien verstoßen zu werden. Das kann das mutmachende Zeugnis eines bekannten Wissenschaftlers und Hochschullehrers sein, der offen zu seiner Bisexualität und seinen SM-Neigungen steht, das kann die Ärztin sein, bei der auch sexuelle Fragen und Sorgen ohne Hemmungen besprochen werden können, das können aber auch wir selbst sein, wenn wir signalisieren: wir sind offen, wir haben keine Geheimnisse (zumindest weniger als andere), uns darf man alles fragen und alles erzählen, wir haben ein offenes Ohr. Ich bin häufig gewarnt worden, über meine Sexualität, meine Beziehungen und meine Erfahrungen zu sprechen, habe es trotzdem immer wieder getan und hab so viele wunderbare Erfahrungen gemacht mit Menschen, die dann ihrerseits so unglaublich mutig und offen waren, dass ich das nur wärmsten Herzens empfehlen kann!
Mein Rat also, verbunden mir einer Seh-Empfehlung (nein, kein Porno!)
Talk about sex and make sex normal!
Freue mich über Eure Gedanken, Kommentare und Diskussionsbeiträge!
Entgegnung von Richard:
Let’s talk about … Nein.
Ich bin ja schon ein bisschen älter und das Studium und die Foucault-Lektüre ist schon ein bisschen her. Aber wenn jemand sagt „Wir sollten mehr über Sex reden“, werde ich stutzig. Nein, ich glaube nicht, dass wir das sollten, bzw. würde den Appell zurückweisen. Und mit ein bisschen Nachdenken fallen dafür, gewissermaßen nachträglich zur beinahe instinktiven Abwehr, sogar Gründe ein.
Zunächst: nein, ich denke nicht, dass ich über Sex mit irgendwem anderen reden sollte, als ich es nicht bis jetzt ohnehin tue. Mit Partnerinnen, mit Freunden, mit Freundinnen. Ich wüsste nicht, warum ich an dieser Praxis etwas ändern sollte. Ich denke nicht, dass ein weiteres, ein „Mehr-Reden“ besser wäre, für mich, die ZuhörerInnen, für irgendjemanden. Insofern: Ich sehe keinen Bedarf. Weiters: ich will auch nicht wirklich etwas über die Sexualität von Menschen wissen, die nicht auch bislang mit mir darüber reden wollten. Vereinfacht gesprochen (und so natürlich nicht generalisierbar) interessiert mich die Sexualität meiner ArbeitskollegInnen oder SportvereinskollegInnen oder MitfahrerInnen in der U-Bahn eigentlich nicht. Und möglicherweise würde es das Zusammenleben als ArbeitskollegInnen, MitfahrerInnen in der U-Bahn oder im Sportverein eher ins Unvorteilhafte verändern. So genau kann ich mich nicht mehr erinnern (auch das ist schon ein bissl her), aber das Beständige Diskursivieren der eigenen oder fremden Sexualität lässt sich auch als „Terror der Intimität“ (oder Überintimisierung) beschreiben. Ich möchte mit jemanden Sport machen, und mich nicht dafür interessieren müssen, wer wen (oder von wem) gerne mit einem Strap-On …. Man ahnt, worauf ich hinaus will?
Gut, bislang habe ich über mich geschrieben. Kein Wunder, bei solch einem intimen Thema. Aber es gibt mehr. Man kann berechtigterweise bezweifeln, dass das Reden über Sexualität – oder besser: der Appell mehr darüber zu reden! – recht sinnvoll ist. Und zwar – Soziologie! – weil der Appell an das Subjekt nicht viel bringt. Wenn es denn so sein sollte, dass wir zu wenig über Sexualität reden, sollten wir uns überlegen, warum das so sein könnte. Und wenn es dafür gesellschaftliche Gründe gäbe, hilft der „voluntaristische“ Appell nicht recht viel, der Appell an das vermeintlich handlungssouveräne Subjekt. Gesellschaftliche Verhältnisse lassen sich nicht dadurch verändern, dass wir das wollen, oder wir uns das wünschen. Bzw. kann man sich die Frage stellen: Warum der Geständniszwang in Bezug auf den Sex? Was macht den Sex so besonders? Sexualität ist eine besondere Sphäre der Subjektivierung, die Summe meiner sexuellen Erfahrungen, aber auch der gesellschaftliche Umgang mit meiner Sexualität (oder meinem Begehren), prägen mein Selbst. Didier Eribon beschreibt das sehr fein in der „Rückkehr nach Reims“. Warum sollte diese intime Subjektivierung einem „Mehr-darüber-Reden“ unterworfen werden, einer Entäußerung in eine gesellschaftliche Sphäre? Warum sollte es dieser intimen Subjektivierung dienlich sein, mit anderen Personen darüber zu reden, als ich es ohnedies möchte? Bzw. – wenn ich nicht darüber reden möchte – was hieße dies in diesem Diskurs über meine Sexualität? Darf man überhaupt Nicht-Reden, oder macht sich dann das Nicht-Reden verdächtig? Und in Bezug auf „Make Sex normal“ – welche Normierung ist damit gemeint, und was ist außerhalb dieser Norm?
Was heißt das jetzt alles? Auf gar keinen Fall, dass man nicht über Sex und Sexualität und Lust und Begehren reden sollte. Aber, dass es berechtigte Zweifel darüber gibt, ob es ein „befreites Reden über Sexualität“ geben könnte, nur weil wir uns das wünschen würden. Oder, dass wir einer „befreiten“ Sexualität näherkämen, würden wir mehr darüber reden. Die Sache ist wahrscheinlich komplexer. Wir müssen also nicht unbedingt mehr über Sex reden, sondern viel eher über die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Sex unfrei machen. Zum Beispiel: es geht nicht darum dass einzelne Personen mehr über ihre Homosexualität reden, sondern darum eine Gesellschaft zu schaffen, in der man ohne Probleme zu seiner/ihrer Homosexualität stehen kann oder reden kann. Aber insofern man auch Mehr-Reden über das „Mehr-Reden über“ kann, bin ich froh über den gedanklichen Austausch.
LikeLike