Du weißt, es ist dein letzter Abend, es ist die Nacht ohne morgen. Du hast das Glück lange gelebt zu haben und ohne Schmerzen gehen zu dürfen. Es war ein gutes Leben. Du bist im vertrauter Umgebung, es ist ruhig, du bist alleine. Alles ist geregelt. Du blickst zurück auf dein Leben, auf die Erfolge und Misserfolge. Auf die vertanen und genützten Chancen, die ergriffenen und nicht ergriffenen Gelegenheiten. Auf deine Beziehungen, die du nun, so wie sie sind, loslassen musst. Du stehst ganz am Ende und blickst zurück. Das war es also, dein Leben. Nichts wegzunehmen, nichts hinzuzufügen. Vielleicht hast du dein Leben noch nie so sehr gespürt wie jetzt. Alle Schleier sind gefallen, du stehst vor den letzten Wahrheiten und spürst schon wie sie beginnen dich zu berühren. Gefühle wallen auf und verebben wieder, es gibt nur diesen Moment und das macht ihn fast unaushaltbar intensiv. Jetzt verstehst du.
Folgender Abschiedsbrief war eine Übung im Zuge eines Selbsterfahrungsseminars zum Thema Abschied. Ich möchte ihn in überarbeiteter Fassung hier mit euch teilen. Außerdem möchte ich euch dazu einladen, euch auch auf diese Reise zu begeben. Es ist schmerzhaft und sehr traurig, aber auch sehr heilsam und augenöffnend.
Abschied
Das war es also, es ist vorbei.
Was morgen ist, ich weiß es nicht.
Aber was ich weiß, ist, dass das Leben und ich eine ganz wunderbare Zeit zusammen hatten.
Was haben wir nicht alles gemeinsam durchgemacht, welchen Schmerz habe ich durchlebt, aber auch welche Freude gefühlt. Ach was habe ich es geliebt zu leben. Ich kann dich wirklich nur ganz ganz schwer aufgeben, am liebsten würde ich dich festhalten und nie loslassen. Nur noch eine Woche, einen Tag, zumindest eine Stunde! Aber ich weiß, das geht nicht. Ich weiß, ich muss und vielleicht auch ich „darf“ loslassen und es ist okay.
Ich denke, ich habe alles aus dem Leben herausgeholt, was herauszuholen war. Ich habe nicht alles gemacht, was ich mir erträumt oder vorgenommen habe und ich habe nicht alles gesehen, was ich sehen wollte, aber wäre es jemals genug oder alles gewesen? Jedoch habe ich alles gegeben, was ich geben konnte. Mehr kann ich nicht verlangen.
Ich bereue nichts.
Was nicht heißt, dass ich keine Fehler gemacht habe, ich habe unzählige gemacht und wenn ich manche von euch damit verletzt habe, so tut es mir unendlich leid. Bitte verzeiht mir meine Unzulänglichkeiten, aber ich wusste es in diesen Momenten nicht besser. Ich bin auch nur ein kleiner, unwissender, schwacher und fehlbarer Mensch in der Unendlichkeit. Wahrscheinlich ist das auch das einzige, was ich überhaupt im Leben gelernt habe. Deshalb möchte ich euch aus diesem Moment heraus folgendes mitgeben:
Es ist nicht wichtig! Seid einfach freundlich und liebevoll zu euch selbst und zueinander.
Nun gehe ich also. Was werde ich unsere Welt vermissen. Die Farben, die Wälder, die Flüsse, Berge, Meere, Wüsten … einfach alles. Die Erde ist so atemberaubend schön. Und auch wenn ich es zu oft nicht sehen konnte, so bin ich selten aus dem Staunen herausgekommen.
Am meisten aber werde ich die Menschen vermissen. Natürlich insbesondere meine Herzensmenschen, aber eigentlich alle, selbst die, welchen ich nie begegnen durfte. Unsere Begegnungen, unser gemeinsames Lachen, unser gemeinsamer Spaß, das Tanzen, das Essen und soooo vieles mehr, einfach die Freude am Beisammensein. Ich habe jeden Moment mit euch genossen.
Ich nenne das alles zusammenfassend Kontakt, dieser macht(e) für mich das Leben an sich aus.
Und auch wenn ich im Tod das Gefühl des Vermissens vielleicht gar nicht mehr spüre, so macht es mich in diesem Moment doch unendlich traurig, euch nie mehr zu sehen, zu hören, zu spüren, zu riechen und zu schmecken. Es war unglaublich, diese Reise „Leben“ mit euch. Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, nicht mehr Teil davon zu sein. Zumindest nicht mehr als Marcel. Es wird mir fehlen Mensch zu sein, mit all unseren Eindrücken.
Liebe Enkel, Kinder, Familie, Freunde und Wegbeleiter:innen, ihr seid einfach grandios und fantastisch, genauso wie ihr seid. Ihr habt mir so viel geschenkt, ich kann das gar nicht in Worte fassen. Ich kann nur nochmal Danke sagen. Ihr habt mich zum Menschen gemacht. Ich hoffe, ich konnte euch auch etwas zurückgeben. Das ist es, wofür ich gelebt habe, für das Gemeinsame, für die Liebe.
Ich habe Angst und gehe nicht ohne Wehmut. Es tut unbeschreiblich weh, aber ich habe den Mut weiterzugehen und es geht mir gut. Und ein bisschen gespannt bin ich auch, was denn nun folgt.
Also mach es gut liebe Welt und ihre Menschen. Lasst es euch gut gehen und passt gut aufeinander auf! Behandelt euch selber und gegenseitig liebevoll. Genießt die Zeit, wirklich jeden Moment, sie geht rasend schnell vorbei.
Am liebsten würde ich einfach ewig weiterschreiben, weil das bedeuten würde, ich bin noch da, aber hier ist jetzt das Ende.
Die Zitrone ist ausgepresst.
Der Funke ist erloschen.
Der Kontakt ist abgebrochen.
In unendlicher Liebe und voller Dankbarkeit
früher bekannt als Serhan Marcel Bilgili, jetzt ohne Ego, aber weiterhin Teil von allem.
Eins ist alles und alles ist eins.