Türchen 16 (von Bernhard)

Weihnachtsevangelium

König Herodes war in einigen Belangen seiner Zeit voraus, in anderen wiederum weniger. Beispielsweise kann sein Umgang mit Kindern aus heutiger Sicht als problematisch eingestuft werden. Abgesehen davon war er aber auch bestrebt, sein Herrschaftsgebiet Judäa fit für das neue Jahrtausend zu machen. Dies äußerte sich beispielsweise darin, indem er die Bevölkerung statistisch erfassen ließ. Die Teilnahmebereitschaft an diesem ambitionierten Projekt ließ jedoch in weiten Teilen der Bevölkerung zu wünschen übrig, insbesondere in bildungsfernen Schichten. So wollten etwa einige mutmaßliche Staatsverweigerer, darunter auch das Ehepaar J. und M. v. N. (Name vom Autor anonymisiert) ihrer Auskunftspflicht entgehen, indem Sie kurz vor der Erhebung von ihrem Wohnsitz in Nazareth nach Betlehem flohen.

Abgesehen von ihrer verfassungsfeindlichen Gesinnung litt die hochschwangere M. v. N. unter schizophrenen Wahnwahrnehmungen. Einige Wochen zuvor hatte sie beispielsweise von der Erscheinung eines Menschen mit Flügeln berichtet. Die beiden versuchten in den Suburbs Betlehems unterzutauchen. Einige Vermieter durchschauten die Absichten des mittellosen Paares, in ihren leerstehenden Wohnungen als Mietnomaden Obdach zu finden und konnten dadurch ihrerseits finanziellen Schaden abwenden. Letztendlich kam das Paar in einem Gebäude eines Landwirtschaftsbetriebes im Umland Betlehems unter. Dort wurde ihr Neugeborenes unter widrigsten hygienischen Bedingungen und ohne adäquate fachmedizinische Betreuung zur Welt gebracht. Augenzeugen zufolge soll sich während der Entbindung sogar Nutzvieh in derselben Räumlichkeit befunden haben. Das Wohlergehen von Kind und Mutter ist schließlich mehreren Beschäftigten des Landwirtschaftsbetriebes zu verdanken, die diese umsorgten. Später erhielt die Jungfamilie auch Zuwendungen von sogenannten Sterndeutern, die im Zuge ihrer parawissenschaftlichen Forschungsreise zufällig an dem Gebäude halt gemacht hatten. Von diesen Zuwendungen, zu denen neben symbolischen Aufmerksamkeiten auch wertvolles Edelmetall zählte, konnte die Familie schließlich länger zehren.

Der spätere Werdegang des Sohnes J. erwies sich zunächst als vielversprechend, immerhin erlangte dieser einen Lehrabschluss. Später jedoch wandte er sich der Scharlatanerie zu und betätigte sich als sogenannter Wunderheiler. Erschwerend driftete auch er, wie bereits seine Eltern, in die Staatsverweigererszene ab und geriet dadurch mit dem Gesetz in Konflikt. Schließlich wurde er inhaftiert und rechtskräftig verurteilt. Nach seinerzeit üblicher Rechtspraxis war die Strafe durch den Tod nichts Außergewöhnliches und diese wurde auch umgehend vollstreckt, was wiederum zu jahrtausendelangen Unruhen in der Staatverweigererszene führte, für die der Exekutierte in der Folge so etwas wie ein Märtyrer darstellte.

Allerdings kann man König Herodes dieses Ausmaß an Eskalation nicht anlasten. Zum Einen nämlich war die Volkszählung gar nicht einmal seine Idee, sondern erfolgte auf Anordnung von Kaiser Augustus. Zum Anderen fällt die verabsäumte diversionelle Erledigung des Strafvollzugs an J. nicht mehr in seine Herrschaftszeit. Aus heutiger Sicht hätten eine sozialtherapeutische Vollbetreuung von Problemfamilien sowie eine Aufwertung der Lehre, sodass diese beispielsweise gar zum Studium an einer Universität berechtigt, ihr Übriges getan. Aber das konnte man damals ja nicht wissen.

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