Türchen 19 (von Jörg)

Die Tage, in denen wir uns gerade befinden, sind die kürzesten des Jahres. Nie ist es je so viel finster, nie ist es so kurz hell. Daran ändert auch die Verschmutzung mit künstlichem Licht nichts, die von Jahr zu Jahr weiter ausufert. Im Gegenteil: All die grellen Lichter, wie sie sich gerade zu Weihnachten noch einmal gesteigert gegenseitig zu überblenden versuchen, sind der Spiegel unserer Angst vor dem Finsteren, dem Stillen, dem Ereignislosen, dem Mit-sich-alleine-Sein. Jedes Kind, noch bevor es weiß, was es auf der Welt zu fürchten gibt, ängstigt sich ja schon vor dem Dunklen, wie wir uns alle erinnern können. Sogar den Tod vermag ein Kind schon zu fürchten, wenn es sich in einem akuten Moment in seinem Leben bedroht fühlt, obgleich es noch keinen Begriff vom Sterben hat. Das Nichts ist der letzte Ort unserer Angst, es jagt uns eine ganz ungeheure Furcht ein, wenn wir es zulassen.

Der spanische Philosoph Miguel de Unamuno hat einmal, ich glaube im „Tragischen Lebensgefühl“, davon erzählt, dass ihm die Höllengeschichten in seiner Kindheit nie die größte Angst gemacht habe. Denn auch wer die Ewigkeit in Qualen verbringe, sei ja immer noch da. Schrecklich sei vielmehr die Vorstellung gewesen, nicht mehr zu sein, aufzuhören, zu verschwinden, als ein Ich nicht mehr stattzufinden. Vielleicht erwächst das religiöse Empfinden, das sich nach Erlösung sehnt und nach der Ewigkeit, aus dieser unmöglichen Aufgabe, sich anderweitig mit dem eigenen Bewusstsein ein Dasein der Welt vorstellen zu müssen, in dem es dieses sich gerade etwas vorstellende Bewusstsein nicht mehr gibt. Können wir das überhaupt denken? Was wäre überhaupt eine Welt noch ohne mein Bewusstsein, insofern ich jeden Begriff von dieser Welt durch mein Bewusstsein habe? Verschwände sie nicht gleich mit mir ins Nichts?

Eine uns allen bekannte Spielerei ist, jemanden aufzufordern, sich einen Elefanten mit dieser oder jener Farbe keinesfalls vorzustellen. Dass dieser Versuch scheitert, zeigt natürlich so manches über die Weise, wie die Vorstellungsbilder unseres Bewusstseins unvermittelt auf- und wieder abtauchen. Die Lehre daraus ist bekanntlich: Wir können uns etwas nicht einfach nicht vorstellen. Jede Negation hat immer das Vorstellungsbild des Negierten mit dabei, ist immer beides: das Nicht-Etwas und das Etwas selbst. Und so wundert es nicht, dass wir uns etwas wie das Nichts, das uns so viele Schrecken einjagen kann, wenn wir uns erst wirklich für den Gedanken daran und damit für den eigenen Tod öffnen, überhaupt nicht vorstellen können. Ein Nichtvorstellen wovon auch immer ginge ja noch vielleicht, als eine große Leere des Geistes, wenn die Reize von außen nicht groß sind und uns eben keiner aufträgt, nicht an Elefanten zu denken. Aber wie füllt man den Geist mit einer Vorstellung von Nichts? Wo käme dieses Vorstellungsbild her?

Schon kleinste Annäherungen scheitern hier: Demokrit meinte einst etwa, die Welt bestünde aus lauter „Atomen“, unteilbaren und verschiedengestaltigen Grundobjekten. Da alles in der Welt von oben nach unten falle, was das auch immer bedeuten soll, müssten diese Atome freilich in einer völlig parallelen Bewegung zueinander sein, könnten also gar nie zusammenstoßen. Der spätere Ausweg Epikurs: Irgendeine kleine Abweichung habe sich einmal zutragen müssen, sodass ein Atom an das andere stieß, worauf sich ein Kettenprozess in Gang setzte und die Welt entstand. Schon Cicero fand diese ganze Konzeption sehr lächerlich, denn sie schaffe keine Welterklärung, sondern ein noch größeres Mysterium. Wer hat dieses Atom denn zu diesem Akt veranlasst? Wodurch konnte es das?

Aber natürlich hat der epikureische Schabernack schon einen gewissen Punkt, denn können wir uns überhaupt eine Welt von völlig parallel herabfallenden Atomen vorstellen? Entsteht nicht zwanghaft in uns stets eine kleine Abweichung, sobald wir uns das vorzustellen versuchen? Und ist es denn nicht beim Nichts noch viel mehr so, dass wir in unserem Vorstellungsversuch ständig irgendetwas aufblitzen sehen? Wir können uns vielleicht ein Nichts vorstellen, dass Phantásien auffrisst, so wie es in der Unendlichen Geschichte der Fall ist – aber dann ja auch nur, weil wir eben Phantásien als die große Negation des Nichts vor uns haben, oder umgekehrt das Nichts als Negation Phantásiens begreifen können. „Negation“ ist eben das Schlüsselwort: Auch das lustige Atom der Epikureer hat offensichtlich eine Regel negiert, nämlich das geradlinige Fallen. Aus einer ersten Negation entsteht so die ganze Welt.

Vielleicht genügt es hierzu aber auch schon, wenn es nur das Nichts und die Negation im Vorhinein gibt. Negieren wir das Nichts, ist ja in jedem Falle etwas anderes da, ein Nichtnichts. Mit zwei Zuständen kann man aber schon ziemlich viel bauen, wie auch Informatiker zu erzählen wissen. Zwei Zustände sind explosiv, würden vielleicht Philosophen sagen: Man hat in ihnen nicht nur das Eine und das Andere vorhanden, sondern damit auch eine Menge von beidem, ihre Differenz, ihre Relation usw., also lauter dritte, vierte, fünfte Dinge, die man ebenso wieder aufeinander beziehen kann. Das Universum explodiert also schon aus einem ersten Etwas heraus in eine sich ständig erweiternde mannigfaltige Buntheit an Zuständen, in ein Meer an Möglichkeiten.

Hat das alles für unsere Sicht auf das kleine Universum, das unser Leben darstellt, eine Bedeutung? Ja. Denn wir tragen falsche Konnotationen mit uns herum, wenn wir vom Nichts und von Negationen denken. Wir nennen in unserem Volksmund gerne Schlechtes „negativ“ und Gutes „positiv“. Wir betrachten das Nichts als etwas Dunkles, Verschlossenes, als ein tiefes Loch, das alles wegnimmt und in das man hineinfallen kann. Aber das ist eine zu einseitige Sicht. Das Nichts ist ebenso etwas Helles, Offenes, gerade so wie ein weißes Papierblatt, das vielleicht bald kunstvoll beschrieben wird und mancherlei Wunder noch bereithält. Das Nichts bedeutet eine Offenheit, alles in sich aufnehmen zu können, es bedeutet Möglichkeiten zu haben. In der ostasiatischen Philosophie gibt es, etwa in den Lehrfragen, den Kōans, des Zen-Buddhismus, einen entsprechend offenen Begriff des Nichts: „mu“ (無).

In diesem Sinne sollten wir auch die Negationen in unseren Leben nicht als Last, als Gegen-mich, als Hindernis, als Affront, als Zerstörung empfinden. Sondern als einen Fingerzeig auf mögliche Alternativen. Wir müssen ein „Nein“ lernen, dass nicht in der Zurückweisung besteht, sondern in der Vermittlung von anderen Wegen, die zur Wahl stehen. Und so empfiehlt es sich von Zeit zu Zeit sicherlich auch, einmal alle Lichter abzudrehen und sich dem Nichts, der Negation, der Finsternis zu übergeben – und den Möglichkeiten, die in dieser Stille schlummern.

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