Self-Care, wenn es niemand anderes tut?
Radikale Selbstfürsorge heißt ein Buch der Autorin Svenja Gräfen, das dieses Jahr erschienen ist und das postuliert, dass wir gut für uns selbst sorgen dürfen, ja müssen, wenn wir anderen helfen wollen und an unserem Aktivismus nicht ausbrennen wollen. Da geht es nicht nur um Yoga und ums Schaumbad, sondern auch um Ernährung, Schlaf und den rechtzeitigen Besuch beim Zahnarzt. Message: wir sind auch dann gute Aktivist*innen und Feminist*innen, wenn wir uns (auch) um uns selbst kümmern. Klingt gut oder? Und hört sich ja fast an wie ein Gegenmodell zu Selbstoptimierung und Selbstausbeutung. Doch ist es das?
Als der 2. (oder wars der 3.) Lockdown uns im letzten Winter mal wieder in die Selbstisolierung (und uns Eltern auch in die Erschöpfung) getrieben hat, erschien auch mir Selbstsorge als geeignete Form, mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Überforderung und Wut umzugehen. Ich bin an den Attersee gefahren, ins Sommerhaus der Schwiegereltern, hab so gut geheizt, wie es eben ging und mich mit einer Tasse Tee auf den Steg gesetzt und Wasser und Berge angeschaut.


Ich habe mir in der Blumenhandlung, die aus irgendeinem Grund offen haben durfte, regelmäßig frische Blumen gekauft sowie Schafskäse und Joghurt beim Schafshof im Dorf.

Ich hatte Nüsse und Südfrüchte, Badesalz, Bücher ohne Einschränkung, Künstlerbedarf und Wollsocken. Ich habe eine Podcastserie gestaltet, Ablenkung und Anregung hatte ich also auch. Hat es geholfen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie es ohne gewesen wäre. Aber wirklich gut ging es mir nicht. Wütend und traurig war ich, immer abwechselnd.
Inzwischen denke ich, dass all die Selbstsorge mühsam aufrechterhalten hat, was sonst nicht aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Sie hat dafür gesorgt, dass ich weiterarbeiten konnte, weiter homeschoolen konnte, weiter familienmanagen konnte, halt mit kleinen „Aussetzer“ zwischendurch. Sogar einen Journalartikel habe ich in dieser Zeit geschrieben (der dann abgelehnt wurde). Ich habe also im Großen und Ganzen weiterfunktioniert, weiteroptimiert und ja, wahrscheinlich mich weiter selbst ausgebeutet. Deswegen erscheint mir, dass es eher so ist: Self-Care war und ist kein Gegenmodell zu all dem, sondern ein Bestandteil. Wir ruhen uns nicht aus, weil es schön ist sich auszuruhen, sondern weil wir es brauchen, um wieder leistungsfähig zu sein (die wunderbare Amrei Bahr hat dazu einen Radioessay (Link: https://www.deutschlandfunkkultur.de/work-life-balance-100.html) gestaltet).
Ein wenig stabilisiert hat mich dieses Self-Care Ding, richtig geholfen hat es aber nicht. Was hat dann geholfen? Ich erinnere mich an einen Anruf eines Freundes, ganz unerwartet, in der Adventszeit. Er hatte in seinem Adventskalender die Aufgabe bekommen, jemand anzurufen (und nicht über Corona zu reden). Es war ein unerwartetes und schönes Gespräch. Später dann hat es geholfen, Freund*innen wieder zu treffen. Und dann auch eine Psychotherapie, die ich im Frühsommer begonnen habe und die sich als eine der besten Entscheidungen überhaupt herausgestellt hat. Ich habe viel verstanden über mich und warum mir manche Dinge so Probleme machen. Und das war teilweise so schmerzhaft, so unangenehm, dass der Begriff Self-Care darauf so gar nicht passen will. Was ich dabei aber erfahren habe, war „Care“. Dass sich jemand anderes um mich kümmert, Anteil nimmt an dem, was mich bewegt und mich belastet. Und dass es OK ist – nein nicht nur OK, sondern wichtig und schön – das zuzulassen oder sogar darum zu bitten.
Ich habe in der folgenden Zeit einige weitere Erfahrungen machen dürfen, die mir gezeigt haben, wie wohltuend es ist, Gemeinschaft zu erleben, nicht alleine zu sein, nicht alleine alles schaffen zu müssen, Menschen zu haben, die für einen sorgen. Und natürlich auch, wie schön es ist, für andere zu sorgen. Ich habe bei Freund*innen an Küchentischen gesessen, vor mir ein Teller Essen, das sie für mich gekocht hatten, zwischen uns ein Gespräch. Ich habe mich in Betten gelegt, die andere für mich bezogen haben. Und ich hab mich in den Arm nehmen lassen, das kann man nämlich alleine auch ganz schlecht.

Was ist also besser als Self Care? Care! Die Erfahrung machen zu dürfen, dass sich andere um einen kümmern und eigene Wünsche und Bedürfnisse erfüllen. Dass sie es vielleicht sogar gerne tun.
Deswegen am Schluss ein Appell (ein anderer Autor hier schrieb einmal, Appelle seien keine sozialwissenschaftliche Kategorie, womit er Recht hat, aber das hier ist auch keine Sozialwissenschaft) und ein Angebot. Der Appell: verweigern wir uns der Idee, alles über Selbstsorge richten und abfangen zu müssen! Radikaler noch als radikale Selbstsorge ist der Verzicht darauf, sich immerzu selbst für die Dinge in Stand zu halten, die auf Dauer zum Selbstverzehr führen. Und stellen wir stattdessen die Sorge um andere (um ihrer selbst willen, nicht um ihrer Leistungsfähigkeit willen) ins Zentrum, genauso wie die Sorge anderer um und für uns. Und das Angebot: wenn es etwas gibt, was Euch guttäte, und das ich möglicherweise für Euch tun könnte, dann lasst es mich wissen. Vielleicht kann ich Euch den Wunsch ja erfüllen und eine gute Übung ist das Bitten jedenfalls. Es wäre mir eine Freude und Ehre!